Mit Herz und Skalpell
ein kleines bisschen schüchtern.
Alexandras Augen suchten die Reihen ab, und als sie Linda entdeckte, lächelte sie. Oder bildete Linda sich das nur ein, weil sie sich wünschte, dass es so war? Für einen kurzen Moment blieben ihre Blicke aneinander hängen. In Lindas Magen probten tausende Ameisen einen Aufstand.
Dann setzte Alexandra sich auf ihren Stammplatz in der ersten Reihe zwischen die anderen Oberärzte.
Als Letzter betrat Professor Rosenbusch den Frühbesprechungsraum und blieb vor der versammelten Mannschaft stehen. Er grüßte und eröffnete die Besprechung. Jemand begann aus seinem Nachtdienst zu berichten.
Linda schaltete ab. Sie hielt diese Veranstaltung in den allermeisten Fällen für überflüssig. Im Grunde war es jeden Tag die gleiche Prozedur, und nur ausnahmsweise erfuhr sie etwas wirklich Wichtiges. Sie hatte sich angewöhnt, die Zeit sinnvoll zu nutzen und ihre Kollegen zu beobachten. Ihr Blick schweifte umher, doch er stoppte wie eigentlich jedes Mal an einer ganz bestimmten Stelle – mit Abstand das Interessanteste, was die Frühbesprechung zu bieten hatte. Alexandras Anblick hielt sie gefangen, auch wenn sie meistens nur ihre Rückseite studieren konnte. Ihre Augen fuhren den Hals hinunter, die Schultern entlang, über den Rücken. Dann versperrte die Stuhllehne die Sicht.
Als der Diensthabende zu Ende berichtet hatte, wollte Linda aus Gewohnheit schon aufstehen, doch anders als sonst trat Professor Rosenbusch noch einmal nach vorn.
»Ich habe Ihnen eine wichtige Mitteilung zu machen«, begann er. »Wie die meisten von Ihnen wahrscheinlich bereits mitbekommen haben, wird uns Professor Strobel Ende Juni verlassen.«
Ein Raunen ging durch den Raum. Offensichtlich war Linda doch nicht die Letzte gewesen, die von dieser Neuigkeit erfahren hatte.
Alexandra richtete sich wie auf Kommando in ihrem Stuhl auf. Auch Jochen Gärtner, der direkt neben ihr saß, rutschte nervös auf seinem Sitz herum.
»Und natürlich wird es einen neuen Leitenden Oberarzt geben«, unterbrach der Chef das Tuscheln und Gemurmel, das seine Bekanntgabe ausgelöst hatte, »oder eine Oberärztin.« Er machte eine Pause, während er Jochen und Alexandra direkt fixierte.
Auch ohne ihr Gesicht zu sehen, konnte Linda spüren, wie angespannt Alexandra war. Die Aufregung übertrug sich auf Linda. Ihr Fuß wippte auf und ab.
»Alles in Ordnung?«, flüsterte Andreas.
Linda nickte. »Alles bestens.«
Unterdessen fuhr Professor Rosenbusch fort: »Ich werde mich zuallererst in unseren eigenen Reihen umsehen. Ich denke, wir haben einige fähige Mitarbeiter hier, die diese Stelle besetzen könnten.«
Linda konnte sehen, wie Jochen Gärtners Hände sich zu Fäusten ballten. Er warf einen finsteren Seitenblick zu Alexandra. Die schien ihren Konkurrenten jedoch zu ignorieren und konzentrierte sich weiter auf den Chef.
Dass Alexandra nicht gut auf Jochen Gärtner zu sprechen war, hatte Linda schon seit längerem bemerkt, und nun wurde ihr auch klar, warum. Sie war sich ganz sicher, dass die beiden die Neubesetzung unter sich ausmachen würden. Alexandras Ambitionen hatte Benjamin ja bereits während ihres ersten Nachtdienstes angedeutet; im Nachhinein betrachtet fand Linda das auch durch Alexandras Verhalten in den letzten Wochen bestätigt. Und so wie Linda Jochen Gärtner bisher kennengelernt hatte, war er bereit, für seine Karriere über Leichen zu gehen. Es würde also sicherlich nicht gerade sanft zugehen zwischen den beiden.
»Mitte Juni werde ich meine Entscheidung verkünden. Und jetzt dürfen Sie an die Arbeit«, beendete Professor Rosenbusch seine Ausführungen.
Alexandra wollte aufstehen, aber Jochen Gärtner hielt sie am Ärmel fest und zischte ihr etwas zu, das Linda nicht verstehen konnte. Alexandras Augenbrauen zogen sich bedrohlich zusammen, als sie etwas erwiderte. Dann erhob sie sich, und ohne Jochen eines weiteren Blickes zu würdigen, schritt sie aus dem Raum. Jochen blieb noch einige Sekunden sitzen und schlug mit den Händen auf die Armlehnen seines Stuhls. Die Wut war ihm anzusehen.
»Bist du festgewachsen?« Es war Andreas, der Linda aus ihren Beobachtungen riss.
»Nein, keine Sorge.« Sie folgte ihrem Kollegen aus dem Raum. Auch wenn sie noch nicht allzu lange dabei war, war ihr klar, dass anstrengende Wochen bevorstanden.
»Offensichtlich hat die Kunde von der Neubesetzung schnell die Runde gemacht«, sagte Alexandra, als sie sich einen Stuhl in der Kantine zurechtrückte. Schon auf dem
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