Mit Herz und Skalpell
auf sie verlassen. Das war alles. Mehr gab es da nicht. Ihr Interesse an Linda war rein beruflich.
Sie sah Lindas Lächeln vor sich, sah, wie Linda sich schüchtern eine Haarsträhne hinter das Ohr strich, wie sich ihre Wangen vor Verlegenheit röteten . . .
Und was war das gestern im Auto gewesen? Und an diesem Morgen? Sie waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt gewesen, und hätte Alexandra sich nicht gebremst – wer weiß, was passiert wäre.
Alexandra schüttelte den Kopf.
Einmal und nie wieder. Das hatte sie sich geschworen, und dabei würde es bleiben. Alles andere führte zu nichts.
Applaus riss Alexandra aus ihren Grübeleien. Sie klatschte mechanisch mit.
Als Nächstes betrat Jochen die Bühne. Nach wenigen einleitenden Worten durch den Vorsitzenden begann er mit seinem Vortrag. Doch das, was Jochen Gärtner den Zuhörern bot, war alles andere als eine gelungene Vorstellung. Nicht nur, dass er leise in sein Mikro nuschelte und seine Körpersprache deutlich zeigte, dass er am liebsten ganz woanders gewesen wäre; auch inhaltlich konnte er Alexandra nicht überzeugen.
Sie konnte nicht leugnen, dass Jochen durchaus schon gute Vorträge gehalten und einige vorzeigbare Forschungsergebnisse erzielt hatte. Sonst hätte er sicherlich auch keine Einladung zu diesem Symposium bekommen. Er war definitiv ein besserer Wissenschaftler als praktizierender Chirurg. Normalerweise.
Heute jedoch war es geradezu eine Frechheit, für wie dumm er die Zuhörer verkaufte. Niemand würde ihm diese Theorien glauben, das war völlig an den Haaren herbeigezogen, bar jeder wissenschaftlichen Grundlage.
Alexandra schaute zur Seite. Professor Rosenbusch schien ganz ähnliche Gedanken zu haben wie sie. Tiefe Falten gruben sich in seine Stirn, während er seinem Oberarzt zuhörte. Für seine Klinik war es ziemlich peinlich, was Jochen Gärtner dem Auditorium weismachen wollte.
Der Beifall war etwas verhaltener als bei seinem Vorredner, doch kritische Kommentare blieben aus. Es gab nur einige sachliche Nachfragen. Schon die brachten Jochen jedoch ins Wanken.
Alexandra konnte nur noch den Kopf schütteln. War sie zu kritisch? Waren die anderen Zuhörer doch nicht so intelligent, wie sie dachte? Oder war sie selbst voreingenommen? Fast hätte Alexandra an ihrer Fähigkeit gezweifelt, gute Wissenschaft von Schwafelei und Selbstdarstellung zu unterscheiden – wäre nicht Professor Rosenbusch gewesen, dessen Mimik immer noch äußerst finster wirkte.
Hätte jemand anders diesen Vortrag gehalten und wäre es nicht um den Ruf ihrer Klinik gegangen, hätte Alexandra etwas gesagt. Sie hätte Kritik geäußert, die Lücken in der Argumentation offengelegt. Aber so verzichtete sie darauf, ihren Konkurrenten vor dem gesamten Publikum bloßzustellen. Er wusste hoffentlich auch so, dass Alexandra dazu in der Lage war.
Szenen aus der Vergangenheit blitzten vor ihrem inneren Auge auf: Neurochirurgischer Kongress, während ihres Rotationsjahrs. Ein Vortrag über eine Studie zur Therapie von Subduralhämatomen. Völlig unzureichend, wissenschaftlich überhaupt nicht haltbar. Und Alexandra als blutjunge Assistentin, die es wagte, Kritik zu äußern, alle Behauptungen des etablierten und berühmten Kollegen zu widerlegen.
Alexandra holte tief Atem und hielt dann die Luft an. Lange hatte sie dieses Ereignis verdrängt. Es hatte keine Rolle mehr für sie gespielt. Der Vorfall war irgendwann verjährt, hatte niemanden mehr interessiert. Aber plötzlich war alles wieder da, plötzlich spielte die Vergangenheit vielleicht doch eine Rolle.
Mittlerweile war der dritte und letzte Redner ans Pult getreten. Doch Alexandras Gedanken beschäftigten sich abermals mit Linda.
Immer wieder Linda. Bei ihr blieb sie unweigerlich hängen. Dabei war es doch ganz offensichtlich, dass alles keinen Sinn hatte . . . egal, was alles sein mochte.
Irgendwann war auch der letzte Vortrag beendet, und Alexandra befand, dass es Zeit war, sich nach einem Kaffee umzusehen. Darum bemüht, weder ihrem Chef noch Jochen Gärtner in die Arme zu laufen, schlich Alexandra sich aus dem Saal zur Ausstellung der Pharmafirmen. Unzählige Unternehmen präsentierten nicht nur ihre neusten Medikamente, sondern boten auch Kaffee oder kleine Häppchen an.
Nach vielen Jahren auf Kongressen war Alexandra sehr geübt darin, mit den Pharmareferenten ins Gespräch zu kommen und sich dabei ausreichend zu stärken. Und wenn sie die richtigen Leute ansprach, sprang gelegentlich
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