Mit Herz und Skalpell
Frau nicht widerstehen. Ein Lächeln von ihr, ein Augenaufschlag, und es war um Alexandra geschehen. Sie hatte es lange nicht wahrhaben wollen, aber so etwas hatte sie noch nie erlebt.
Es fühlte sich gut an, das musste sie zugeben. Und der Kuss . . . Sobald sie daran dachte, spürte sie wieder dieses Prickeln. Dieses tiefe Glück, gepaart mit einer ungeahnt heftigen Sehnsucht nach mehr.
Alexandra versuchte sich auf ihr Training zu konzentrieren, aber ihre Gedanken ließen sich plötzlich nicht mehr von Linda ablenken.
Sollte sie es wagen? Durfte sie Linda näherkommen, obwohl sie zusammen arbeiteten?
Vielleicht sollte sie ihnen tatsächlich eine Chance geben. Denn dass Linda ihre Gefühle erwiderte, war mehr als deutlich – ebenso wie die Tatsache, dass Alexandras bedingungslose Fokussierung aufs Berufliche sie quälte. Plötzlich nagte noch etwas anderes an Alexandra, das sie bisher kaum gekannt hatte: Mitgefühl. Gewissensbisse.
Also, wenn sie es doch beide wollten . . . All die Schwierigkeiten, die sich daraus ergaben, würden sich sicherlich irgendwie lösen lassen . . .
Alexandra folgte Lennard zur Beinpresse.
»Du wirkst etwas abwesend heute. Ist alles okay?« Es hatte fast etwas Rührendes, wie Lennard sich um sie sorgte.
Sie schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Nein, es ist nichts.«
»Bist du wegen der Oberarztstelle nervös?« Lennard zwinkerte ihr zu. »Das wäre ja mal was Neues. Die große Alexandra ist aufgeregt.«
Alexandra hob ihr Kinn leicht an. »Ich doch nicht.« Sie hätte gern noch ein wenig hochmütiger geklungen, aber im Grunde war sie froh, dass Lennards falsche Vermutungen sie auf andere Gedanken brachten.
»Du musst dir auch wirklich keine Sorgen machen«, meinte Lennard und legte Gewicht auf. »Auch wenn Jochen ein paar Jahre mehr auf dem Buckel hat – der Chef müsste vollkommen blind sein, um nicht zu erkennen, dass du viel besser für die Stelle qualifiziert bist.« Er nahm auf der Beinpresse Platz und begann mit dem Training.
»Ich wäre gern so optimistisch wie du.« Alexandra lehnte sich gegen das Gerät. »Der Chef ist geradezu die Verkörperung des Konservativen. Du weißt, wie viel Wert er auf geordnete Familienverhältnisse legt, mit Ehemann und Ehefrau und am besten einer Schar von Kindern. Wobei die Frau natürlich Hausfrau ist und keine karrieregeile Chirurgin.« Sie stemmte die Hände in die Hüften und imitierte den grimmigsten Gesichtsausdruck ihres Chefs: »Frauen in der Chirurgie sind ohnehin des Teufels Werk.«
Lennard lachte. »Ist das so?«
»In seinen Augen schon«, entgegnete Alexandra, nun wieder ernst. »Würde ihm von der Klinikverwaltung nicht auferlegt, eine gewisse Anzahl an Frauen für die Quote einzustellen, gäbe es nur Männer. Und in den Spitzenpositionen sowieso.«
Lennard beendete seinen Zyklus und machte den Platz für Alexandra frei. »Übertreibst du jetzt nicht ein bisschen?«
Sie zuckte die Schultern. »Glaub mir, ich habe genügend Diskussionen mit ihm geführt, die das sehr eindeutig zeigten.«
»Aber er schätzt dich und dein Können«, wandte Lennard ein.
Alexandra erhöhte das Gewicht um weitere fünf Kilogramm, ehe sie sich setzte. »Da hast du sogar recht. Trotzdem musste ich immer mindestens zehn Prozent besser sein als alle anderen, um dieselbe Anerkennung zu bekommen. Aber mittlerweile ist er wohl nicht mehr ganz so starrköpfig wie am Anfang. Die jüngeren Kolleginnen haben es leichter. Auch unser Professor kann sich nicht dagegen wehren, dass sich die Zeiten nun mal ändern. Die Medizin wird weiblich!« Beim letzten Satz begann sie energisch das Gewicht abzudrücken.
»Siehst du«, versetzte Lennard, »mit dir könnte er ein Zeichen setzen.«
»Lennard, ich bin in seinen Augen ganz bestimmt nicht die richtige Person, um die Klinik nach außen zu repräsentieren. Ohne Mann, ohne Kinder und ohne eine lange Liste in der Medizin berühmter Vorfahren.« Und wenn Melanie ihre Drohung wahrmachte und sie outete, dann erst recht nicht mehr. Alexandras Gesicht verfinsterte sich, während sie zügig und gleichmäßig ihre Übung absolvierte.
Dennoch – sie würde sich nicht von ihr erpressen lassen. Sie wollte nicht wieder mit jemandem arbeiten, dessen Arbeitsethik solche gravierenden Mängel aufwies wie bei ihrer ehemaligen Mitarbeiterin Melanie. Es musste einen anderen Weg geben.
»Genug für heute«, beendete Alexandra das Training. »Ich gehe noch ein paar Minuten laufen zum Runterkommen.«
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