Mit Herz und Skalpell
und nur mit Bestnoten. Sie war immer hart zu sich gewesen, hatte es immer zur höchsten Priorität gemacht, ihre Ziele zu erreichen. Das war der Mittelpunkt ihres Lebens.
Auch beim Sport war es ähnlich gewesen. Nachdem sie mit dem Bogenschießen angefangen hatte, hatte sie jede freie Minute trainiert, bis sie es irgendwann zur Landesmeisterin gebracht hatte.
Alexandras Füße flogen über das Laufband.
Für mehr war kein Platz gewesen, und sie hatte auch nichts vermisst. Sie hatte immer ein Ziel vor Augen gehabt. Sie wollte selbstgenügsam sein – sich ein gutes Leben ermöglichen, sich etwas gönnen, wenn sie darauf Lust hatte. Und nun stand sie so dicht davor, die nächste Stufe auf der Karriereleiter zu erklimmen, ihr momentanes Ziel zu erreichen und sich auf das nächste auszurichten.
Kleine Schweißperlen tropften ihre Stirn hinunter. Aber ihre Beine fühlten sich leicht an.
Sie hatte immer stark sein wollen, das war ihre wichtigste Antriebskraft. So stark wie ihre Mutter. Elfriede Kirchhoff war ihr großes Vorbild. Nachdem sie ihren gewalttätigen Ehemann verlassen hatte und sich mit zwei kleinen Mädchen ein eigenes Leben hatte aufbauen müssen, hatte sie bis zur Erschöpfung gearbeitet. Für keinen Job war sie sich zu schade gewesen. Vor allem mit dem Putzen – Tag und Nacht – hatte sie die kleine Familie über Wasser gehalten. Dadurch hatte es Alexandra und ihrer Schwester tatsächlich an nichts gefehlt. Klar, Urlaube oder große Anschaffungen waren nicht möglich, aber sie waren glücklich gewesen.
Alexandra sah auf das Display. Noch fünf Minuten.
Früh hatte sie gelernt, dass man für das, was man haben wollte, arbeiten musste. Niemals hätte sie so ein Taugenichts werden wollen wie ihr Vater, der es außer zum Alkohol und zur Gewalt nicht weit gebracht hatte. Ein Versager. Gearbeitet hatte er fast nie. Alexandra hatte nach der Trennung ihrer Eltern nie wieder etwas von ihm gehört und auch keine Bemühungen unternommen, ihn ausfindig zu machen. Er konnte ihr gestohlen bleiben.
Schon der bloße Gedanke ließ die Wut in ihr hochsteigen. Er hatte die Familie nicht unterstützt, im Gegenteil, er hatte Alexandras Mutter ohne Geld und mit zwei Kindern, gerade mal wenige Monate und drei Jahre alt, allein davonziehen lassen.
Aber sie hatten es geschafft; sie waren auf ihn nicht angewiesen. Ihre Mutter arbeitete mittlerweile in einer kleinen Boutique als Verkäuferin und war dort glücklich, auch ohne einen neuen Mann an ihrer Seite. Für ihr Durchhaltevermögen und ihre Unabhängigkeit hatte Alexandra sie immer bewundert – schon als Kind, und jetzt als Erwachsene vielleicht noch mehr.
Langsam schaltete sie das Laufband einen Gang zurück.
Lennard neben ihr keuchte. »Du hast echt eine Kondition, unglaublich.«
Alexandra zuckte mit den Schultern. Sie war rasch wieder zu Atem gekommen. »Ach, das ist doch nichts Besonderes.« Mit ihrem Handtuch wischte sie sich den Schweiß aus dem Gesicht, ehe sie zu den Langhanteln ging.
Weder in ihrem Leben noch im Leben ihrer Mutter hatten Beziehungen jemals eine entscheidende Rolle gespielt. Als Familie hatten sie sich natürlich geliebt, doch ansonsten war die Liebe eine Nebensache gewesen, der Arbeit immer untergeordnet.
Alexandra selbst hatte schon mit sechzehn gemerkt, dass sie sich sexuell zu Frauen hingezogen fühlte. Es war auch nicht so, als hätte sie diesen Gefühlen nicht das ein oder andere Mal nachgegeben im Laufe der Jahre – vielleicht sogar zu oft. Aber nach einer Nacht hatte sie die Frauen niemals wiedergesehen. Die einzige Ausnahme bereute sie immer noch zutiefst.
Alexandra wuchtete eine Hantel hoch. Ihre Hände krampften sich um den Griff. Die Fingerknöchel traten weiß hervor.
Tiefere Gefühle waren niemals im Spiel gewesen. Bis jetzt . . .
Die Hantel glitt ihr aus der Hand und knallte unsanft auf den Boden.
»Alles in Ordnung?« Aufgeschreckt kam Lennard auf sie zugerannt.
»Ja, ich war nur einen Moment unachtsam«, versuchte Alexandra ihn zu beruhigen. Doch im Stillen musste sie selbst ein paarmal tief durchatmen. Das war ihr noch nie passiert.
Sie nahm sich eine neue Hantel, dieses Mal etwas leichter.
Konnte es tatsächlich sein, dass Linda ihr mehr bedeutete als all die anderen Frauen zuvor? War sie tatsächlich verliebt?
Sie legte sich auf die Hantelbank und drückte die Hantel kraftvoll in die Luft.
Jedes Mal, wenn sie in Lindas Nähe war, war sie nicht mehr sie selbst. Sie konnte dieser kleinen blonden
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