Mit Herz und Skalpell
Illustrationen im Buch und Alexandras Erläuterungen.
Anhand der Bilder erklärte Alexandra ihr den Operationsablauf ganz genau, Schritt für Schritt, Schnitt für Schnitt. Die Bilder waren wirklich sehr gut, aber Alexandras Nähe erforderte so viel Konzentration, dass Linda doch das ein oder andere Mal nachfragen musste. Alexandra war jedoch eine geduldige Lehrerin.
Viel zu schnell kamen sie zu den letzten Abbildungen. Linda wünschte insgeheim, es würden noch viele weitere Erklärungen folgen. Die Vorstellung, dass die gemeinsame Zeit mit Alexandra schon wieder zu Ende ging, war fast unerträglich. Doch irgendwann fielen ihr keine Fragen mehr ein, mit denen sie die Unterrichtsstunde noch weiter hätte dehnen können.
Alexandra schlug das Buch zu. »Jetzt kann morgen nichts mehr schiefgehen.« Sie lächelte.
Linda nickte nur.
»Ich finde«, fuhr Alexandra fort, »jetzt haben wir genug gearbeitet. Zeit für den gemütlichen Teil des Abends. Ich hole uns ein Glas Wein.«
Gemütlicher Teil? Hieß das, Alexandra wollte sie nicht sofort wieder nach Hause schicken? Schwindel erfasste Linda. Das letzte Mal, dass sie gemeinsam Wein getrunken hatten, hatte sich das nicht als so gute Idee erwiesen.
Aber . . . es hatte mit ihrem Kuss geendet. Wäre es so schlimm, wenn sich das wiederholen würde? War das nicht eigentlich genau das, was Linda sich am sehnlichsten wünschte?
Alexandra stellte zwei Weingläser auf den Tisch. »Ich habe auch mal den Prospekt meiner Lieblingspizzeria mitgebracht. Ich habe nämlich noch nichts gegessen, und langsam bekomme ich Hunger. Ich weiß ja nicht, wie es dir geht . . .«
»Ähnlich.« Linda griff nach dem Prospekt, den Alexandra vor sie hingelegt hatte. Es tat gut, ihre Gedanken zumindest kurzfristig auf etwas richten zu können, das nichts mit Alexandra zu tun hatte. Sie entschied sich für einen Nudelauflauf.
Alexandra gab die Bestellung auf. Dann holte sie den Rotwein aus der Küche, schenkte ein und reichte Linda ein Glas.
Für einen Moment dachte Linda daran, dass sie noch fahren musste. Aber sie verdrängte diesen Umstand – ebenso wie die Tatsache, dass sie Alkohol auf nüchternen Magen eigentlich nicht vertrug.
Auch wenn es nun nicht mehr wirklich nötig war, setzte sich Alexandra wieder neben Linda auf die Couch. Ziemlich dicht neben Linda. Sie sah ihr tief in die Augen und hob ihr Glas. »Auf diesen Abend.«
Lindas Körper antwortete mit einem heftigen Kribbeln, das sich von ihrer Magengegend aus bis in ihre Hände und Füße ausbreitete. Sie senkte die Lider. Es war unmöglich, diesem intensiven Blick ausgesetzt zu sein, ohne die Kontrolle über ihre Reaktionen zu verlieren. Stattdessen nippte sie an dem Wein. Er war ausgezeichnet, aber etwas anderes war bei Alexandra auch nicht zu erwarten.
»Hast du eigentlich noch Geschwister?«, erkundigte sich Alexandra.
»Nein.« Dankbar für das unverfängliche Thema, wagte Linda wieder, Alexandra anzusehen. Sie lachte. »Ich bin ein klassisches verwöhntes Einzelkind.«
»Das merkt man gar nicht«, neckte Alexandra sie.
»Und du?«
Alexandra seufzte. »Ich habe eine jüngere Schwester. Sie heißt Nicola und ist sechsunddreißig. Sie lebt mit ihrem Mann in Kiel, aber wir stehen uns eigentlich nicht besonders nahe.«
So viele private Informationen auf einmal hatte Linda noch nie von Alexandra bekommen. »Ist es schön in Kiel?«, fragte sie.
»Na ja, es ist immerhin meine Geburtsstadt.«
Linda hob überrascht die Brauen. »Du bist ein Nordlicht?«
Alexandra nickte. »Ich verbinde mit Kiel viele gute, aber auch einige nicht so schöne Erinnerungen. Deswegen betrachte ich es nicht mehr wirklich als meine Heimat.« Sie schlug mit einem Fingernagel leicht gegen ihr Weinglas und ließ ein leises Klirren ertönen. »Aber lass uns nicht von meiner Familie sprechen. Es ist nicht das erfreulichste Thema für mich.«
»Dito«, stimmte Linda zu, und Alexandra lächelte verständnisvoll.
Sie plauderten noch eine Weile über Belanglosigkeiten – die schöne Wohnung, das Studium, die Arbeit –, bis es an der Tür klingelte und das Essen geliefert wurde.
Alexandra entlohnte den Pizzaboten großzügig: »Der Rest ist für Sie.« Dann schloss sie die Tür und wandte sich wieder an Linda. »Ich denke, wir sollten besser am Esstisch essen.«
Kurz darauf nahmen sie am gedeckten Tisch in der geräumigen Küche Platz.
Sie aßen eine Weile schweigend, bis Alexandra mit ernster Stimme begann: »Linda, ich bin froh, dass du
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