Mit Jockl nach Santiago
Sehenswürdigkeit, die Gruppen von Touristen durchwandern, um dann ihr größtes Augenmerk dem einzigen Restaurant des Ortes zu schenken.
Auf dem Weg nach Tournus findet sich ein touristisch weit unverdorbenerer Ort namens Ozenay. Im Umkreis seiner steingedeckten Kirche aus dem 12. Jahrhundert und einem von Wiesen und Obstgärten umgebenen Schloß im Gutshofstil scheint die Zeit tatsächlich seit vielen Jahrzehnten stehengeblieben zu sein. Und wie schon wenige Kilometer zuvor, begeistern uns in Senken geduckte Häuser und malerische Dörfer, die in ihrer seit Generationen unveränderten Bilderbuchhaftigkeit ein turm- und giebelreiches Trugbild burgundischen Dauerfriedens suggerieren könnten.
Nicht gerade märchenhaft erweist sich dafür vom Col de Beaufer der erste Blick auf Tournus, eine Kleinstadt an der Saône, die sich, aus der Feme besehen, in nichts Auffälligem von anderen Städten ihrer Größenordnung unterscheidet. Dieser schale Eindruck während der Anfahrt ist in der Geborgenheit der Altstadt sofort vergessen und erst recht beim Fixstern von Tournus, der romanischen Abteikirche Saint-Philibert, einem ungewöhnlichen, streng gegliederten Bau mit zwei verschieden hohen Glockentürmen an der Fassade, denen ein gewaltiger, viereckiger Vierungsturm an der Ostseite gegenübersteht und damit für einen optischen Ausgleich sorgt. Eine weitere Eigenwilligkeit zeichnet Saint-Philibert mit der selten anzutreffenden Existenz einer sogenannten Oberkirche aus, die sich über der dreischiffigen Eingangshalle zum Langhaus befindet und die man über eine Wendeltreppe erreichen kann. Am meisten beeindruckt mich aber das helle, luftige Langhaus, dessen erstaunliche Höhe schlichte, massive Rundpfeiler zusätzlich betonen. Ja, das Gewölbe wirkt regelrecht in unerreichbare Höhen geschraubt, was den raumgestaltendenden Pfeilern außer ihrer tragenden Rolle auch jene des unbestrittenen Blickfangs einbringt. Verläßt man Saint-Philibert, so hat man sich nicht nur eines der einmaligsten Kirchenwerke des Burgund zu Gemüte geführt, sondern wahrscheinlich auch eine halbe Genickstarre erschaut.
Höchste Zeit, unsere Blicke wieder demütig der Erde zuzuwenden und das Dasein zweier am Boden herumkriechender Zeltlagerer zu führen.
Der freundliche und umgängliche Campingplatzbesitzer informiert uns in perfektem Deutsch über die Wettervorschau der nächsten Tage. Gemischt soll’s werden - auch recht, wir werden live dabei sein. Anschließend lassen wir uns in Tournus blicken. Die in allen Gassen wie gnadenlos ausgestorbene Stadt teilen wir uns in einem geöffneten Café mit einigen Touristen und jugendlichem Volk. Ein wunderbarer Morgen mit klarer Luft und milden Temperaturen hält uns länger als nötig an einem sonnigen Tisch unter bunter Markise fest.
Heute handhaben wir unser Programm ziemlich locker - die 22 Kilometer nach Chalon-sur-Saône nehmen wir mit links, so glauben wir. Doch Jockl hat nicht die Absicht sein persönliches Speedlimit von 20 km/h zu überbieten, und so können wir unserer vertrödelten Zeit auch in einer flotten Fahrt durch endlose Kastanienalleen bestenfalls nur weitere Verzugsminuten dranhängen. Massen von Kastanien kullern auf dem Asphalt herum und liegen zuhauf neben der Straße. Es nützt nichts, wir müssen einfach anhalten, um in diesen rauhen Mengen - einer sehr dunklen, fast schwarzglänzenden Sorte - herumzusteigen, uns danach zu bücken und einzelne Exemplare in alter Gewohnheit in unsere Hosentaschen wandern zu lassen. Chalon noch vor Mittag zu erreichen, können wir aufgeben; auch um 13.00 Uhr ist es schon zu spät. Das Fotomuseum, dessentwegen wir die Stadt überhaupt in unsere Planung miteinbezogen haben, hat bereits geschlossen. Doch auf das Musée Nicephore Niepce direkt am Ziel zu verzichten, kommt nicht in Frage. Es erschiene uns als ein nicht wiedergutzumachendes Versäumnis, an der Wiege der Fotografie so einfach vorbeizufahren. Schließlich verdanken wir Nicephore Niepce, einem würdigen Sohn der Stadt Chalon sowie Louis Daguerre den Auftakt zu fotografischer Pionierarbeit, ohne die unser Leben um mehr als nur um einige Paßbilder ärmer wäre. Entgegen meiner sonstigen Überzeugung, in allem meine Erwartungen niedrig zu halten, schießen meine Vorstellungen punkto Museum eindeutig über den Rahmen hinaus und werden auch prompt enttäuscht. Dieser verheißungsvolle Tempel, der die Fotografie und die Weiterentwicklung ihrer Techniken veranschaulichen soll, läßt uns nur
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