Mit Jockl nach Santiago
ursprüngliche Kristallglaswerk Marie Antoinettes und spätere königliche Gießerei ließ der Schneider-Clan in ein repräsentatives, großzügiges und komfortables Anwesen umbauen und empfing hier auch seine Großauftraggeber und Gäste aus aller Welt. La Verrerie beherbergt heute ein Industriemuseum, welches Überblick von der Kristallmanufaktur und königlichen Gießerei bis hin zu Entwicklungen neuer Technologien gibt, bereichert durch einige hervorragende Modelle und pompöse Gemälde. Als Relikte der industriellen Wiege kann man im Schloßhof noch die beiden kegelförmigen Schmelzöfen der Kristallmanufaktur bestaunen, die die Seitenflügel des Châteaus um einiges an Höhe überragen und sich in der gepflegten Atmosphäre des Parkes wie vom Himmel gefallener Satellitenmüll ausnehmen. Trotz des Gebotenen verlassen wir La Verrerie irgendwie unbefriedigt, denn der Sinn und Zweck dieses Museums scheint uns nicht so recht erfüllt - zu seicht in der allgemeinen Aufmachung, zu wenig informativ. Auch ein Video über Le Creusots Eisenverhüttung zu Beginn unseres Jahrhunderts bringt nicht sonderlich viel Licht ins Wissensdunkel; von den ausnahmslos französischsprachigen Erläuterungen ganz zu schweigen. Ich glaube nicht, daß ein Industriedenkmal von Le Creusots Rang und Wichtigkeit nur für Söhne und Töchter des Landes von Interesse sein könnten. Auch wenn die Grande Nation es nicht wahrhaben will, Englisch hat sich als globale Verständigungssprache bislang am besten bewährt, und auch die Möglichkeit einer zweisprachigen Beschriftung wurde schon erfunden.
Unsere herumnörgelnden Beanstandungen bestraft der französische Herrgott schließlich, indem er uns bis zum innerlichen Siedepunkt im städtischen Straßengewirr herumirren läßt und uns erst nach vielen Bußkilometern aus der Le Creusot-Gravitation entläßt. Südlich der Stadt schlagen wir am Torcy-See unser Lager auf. Zur Ehrenrettung der Nation sei gesagt, daß wir den kleinen, nicht ausgeschilderten Campingplatz nur mit Hilfe zweier Verkehrspolizisten finden, wovon einer sich auf mehrere englische Vokabeln versteht.
Heute entscheiden wir uns, wieder mit Nebenstraßen vorliebzunehmen; sie sind meiner Nervenschonung einfach zuträglicher und verleihen der Fahrt eine Note der Gemütlichkeit. Bauernland im besten Sinne des Wortes begleitet uns bis Perrecy-les-Forges. 40 Kilometer vorbei an wiederkäuenden Fleischlieferanten des Landes, welche in familiärer Runde - Kühe, Kälber und einige männliche Exemplare von furchteinflößender Bulligkeit - das satte Wiesengrün rupfen. Zuweilen erleben wir die sanften Hügeln und bewaldeten Hügel fast als biblische »Wachturm«-Kitschigkeit. Im Bild dieses absoluten Friedens wollen wir uns ein ausgedehntes Picknick in einer Feldwegeinfahrt genehmigen. Nicht lange und wir müssen unser mundiges Mahl überstürzt beenden, da ein Bauer mit seiner Schafherde eben diesen Weg eingeschlagen hat und die Tiere wegen des hohen Getreidestandes auch nicht nach links oder rechts ausweichen können. Kaum Orte und noch weniger Häuser spicken weite Strecken dieser menschenleeren Szenerie.
Erst Perrecy-les-Forges wartet an diesem sonnig-schwülen Tag mit ansatzweisem Dorfleben auf. Vor der Klosterkirche sammeln sich im Laufe weniger Minuten eine Schulklasse, Lehrer und Kirchendiener für letzte Proben zu einer morgigen Kirchenveranstaltung. Nach der Abgeschiedenheit unserer vormittäglichen Fahrt erleben wir die lebendige Buntheit der Klasse und den hellen Stimmeneintopf wie eine belebende Dusche. Gerade hat Wolfgang den Jockl im Schatten an der Seite des hohen Kirchenbaus geparkt, als ein leicht ergrauter Herr seinen flotten Radsprint direkt vor uns abbremst und sein gewinnendes Lächeln in ein munteres »Bonjour« münden läßt. Ein darauffolgendes kurzes Rede- und Antwortspiel, in welches er uns unweigerlich drängt, zeigt bald die Sinnlosigkeit unserer Bemühungen - selbst sein allerbestes Französisch werden wir genausowenig enträtseln, wie er unser brillantestes Schulenglisch. Einer anscheinend plötzlichen Eingebung folgend, schwingt er sich erneut aufs Rad und strampelt durch die Nachmittagshitze von dannen. Etwas irritiert, was das eben sollte, beginnen wir mit der Besichtigung der Klosterkirche, ein romanisches Juwel am Rande des Ortes, einige Meter oberhalb des Flusses Oudrache. Das burghafte Äußere der Kirche findet im Inneren in strenger Einfachheit seine Fortsetzung. Und in der Mächtigkeit des
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