Mit Konfuzius zur Weltmacht
rufen alle im Chor. »Vor der Reform und Öffnung mussten wir immer arbeiten«, sagt die Schwägerin von Frau Wang. Deren ältere Schwester stimmt ihr zu: »Auch die wirtschaftlichen Bedingungen waren schlecht. Jetzt gibt es Urlaub. Früher hatten wir nur einen Tag frei und mussten sechs Tage in der Woche arbeiten.« Sie spreizt den kleinen Finger und den Daumen, die anderen Finger hält sie geschlossen – das chinesische Handzeichen für »sechs«, es entspricht dem Schriftzeichen dafür. Die Handzeichen für Zahlen unterscheiden sich stark von den im Westen gebräuchlichen. Wer etwa Daumen und Zeigefinger spreizt und damit zwei Bier bestellen will, wird in China acht bekommen, denn dafür steht dieses Handzeichen.
Entsprechend den Idealen von Konfuzius hat die Familie in China eine große Bedeutung und übt deshalb auch eine starke Kontrolle über ihre Mitglieder aus. Doch zeigen sich auch bei den Wangs die Unterschiede zwischen den Älteren, die ihren neuen Wohlstand genießen, und den Jungen, die andere Ansprüche stellen. Als er ohne seine Angehörigen an der Reling steht, sagt der Enkel der alten Frau Wang, ein Mittzwanziger und Geschäftsmann: »Ich finde die Veränderungen in den drei Schluchten nicht so gut. Viele schöne Landschaften sind verschwunden. Das ist schlecht.« Wie wirkt sich der Damm auf die Umwelt aus? »Genau, die Folgen für die Umwelt sind auch groß. Ich finde das schlecht. Den Damm zu bauen hat Chinas Regierung entschieden. Uns fragt keiner.«
Anders als noch vor wenigen Jahren hört man heute in China nicht eine einzige Meinung, sondern viele verschiedene, auch über den Dreischluchtendamm. Die Generation Internet liest kritische Blogs und Kurzmitteilungen – wenn sie nicht gerade durch die Zensur gesperrt sind. Das hätte auch Konfuzius gefallen, denn der wünschte sich Kritik: »Was ich auch sage, Yan Hui ist sofort damit einverstanden. So hilft er mir nicht.«
Die Reise auf dem Jangtse führt zu einem Zentrum der chinesischen Kultur im Einflussbereich des Dreischluchtendamms. Unser nächstes Ziel ist die Stadt Fengdu, auf halber Strecke zwischen Wanzhou und der Metropole Chongqing. Fengdu wird in China »die Stadt der Geister« genannt. Hier sitzt der Gott der Unterwelt, zumindest nach der chinesischen Volksreligion, dem Taoismus. Auch diese traditionelle chinesische Religion glaubt nicht an den einen Gott mit der einen Botschaft wie Juden, Christen oder Moslems. Dem Chinesischen näher ist die Aussprache Daoismus, wobei das dao »Weg« bedeutet, aber auch »Prinzip« und »Methode«. Der Taoismus geht auf Laozi zurück, der möglicherweise ein Zeitgenosse von Konfuzius war. Die beiden sollen sich sogar einmal getroffen haben, wobei Laozi Konfuzius angeblich vor politischem Engagement warnte, ein Rat, den dieser jedoch ablehnte. Ob sich die beiden tatsächlich begegneten, ist allerdings ebenso umstritten wie die genauen Lebzeiten von Laozi.
Der Fahrer, den wir an der Schiffsanlegestelle genommen haben, hupt sicherheitshalber alle zehn Sekunden, obwohl nur wenige Autos, ein paar Mopeds und ein Trauerzug seinen Weg kreuzen. So fährt er zum Pantheon, das die Stadt berühmt gemacht hat. In weiser Voraussicht haben die Urahnen es auf einem Berg errichtet. So kann ihm jetzt der gestiegene Wasserspiegel des Jangtse nichts anhaben. Wenn man am heiligen Berg angelangt ist, sieht man zunächst die kitschige goldfarbene, haushohe Figur eines Geistes, natürlich ein Neubau – ein Stück chinesisches Disneyland neben den religiösen Stätten. Besteigt man den Berg, passiert man Baustellen, denn um das Touristengeschäft zu fördern, wird weiter an der Geschichte gehämmert. Auch hier, wo nach dem Volksglauben die Hölle auf Erden ist, gibt es diesbezüglich keine Gnade.
»Dieser Ort hat eine Geschichte von 500 Jahren«, meint ein Bauarbeiter. Ein Kollege korrigiert ihn: »Es sind 1600 Jahre.« Tatsächlich ist Fengdu mehr als 2000 Jahre alt. Der Arbeiter, der näher an der Wahrheit war, scherzt: »Die Toten der ganzen Welt kommen hier vorbei, um sich registrieren zu lassen.« Seine Kollegen lachen. Gibt es hier jetzt immer noch Geister? »Weiterhin kommen die Geister der Toten hierher«, behauptet er lachend und schiebt seinen Schubkarren voll Geröll auf einem Brett hoch zur Ladefläche eines Lastwagens.
Nach 20 Minuten Fußmarsch bergauf stößt man auf die echte historische Anlage, den 1800 Jahre alten Tempel für die Götter des Taoismus. Geschwungene Dächer und mehrgeschossige
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