Mit Konfuzius zur Weltmacht
Chongqing dagegen ist für Menschen aus dem Umland völlig offen. Davon profitiert auch der 29-jährige Taxifahrer He Kun. Sein Wagen glänzt wie alle Taxis hier gelb – auch sie gleichen denen in New York. He ist in einem kleinen Dorf aufgewachsen. Jetzt will auch er am Boom in Chongqing teilhaben.
Während er zwischen den Wolkenkratzern auf sechsspurigen Straßen dahinrast, erzählt er von seinen Träumen: »Ich möchte mein Leben verändern, wie soll ich sagen, die Qualität meines Lebens erhöhen. Bald werden meine Frau und ich ein Baby bekommen. Ich möchte nicht, dass mein Kind einmal so lebt wie ich. Es soll eine bessere Ausbildung erhalten. In dem Dorf, aus dem ich stamme, gab es nur zwei Bücher. In der großen Stadt eröffnen sich für Kinder ganz andere Möglichkeiten.« Ganz im Sinne von Konfuzius, der anspornte: »Wer sich über den Durchschnitt erhebt, mit dem kann man über Großes reden.« Streben nach einer besseren Zukunft, Fürsorge für die Nachkommen und Hingabe an das Lernen – in der größten Stadt der Erde sind auch Taxifahrer treue Anhänger von Konfuzius.
In zehn Jahren wuchsen hier 500 Wolkenkratzer in den Himmel. Einer von ihnen heißt »New York, New York« und ist dem Empire State Building nachgebildet. Selbst das Modell der Stadt füllt ein mehrstöckiges Museum. Überall drängen sich Menschen, etwa Eltern vor den Schulen, wenn die Kinder Prüfungen ablegen. Den besten Überblick behalten die Fensterputzer, die wie Spider-Man an Seilen über der Stadt baumeln.
In der US-Zeitschrift Fortune heißt es, Chongqing, fast in der geografischen Mitte des Landes gelegen, werde als Pionierstadt den Westen Chinas erschließen wie einst Chicago den Westen Amerikas. Aber mit deutlich mehr Einsatz, notiert die New York Times , der Umbau von Chongqing verbrauche umgerechnet 200 Milliarden Dollar, mehr als alle Highways der USA zusammen gekostet haben. Doch die gigantischen Investitionen bergen auch Gefahren. China hat ebenso wie andere ein Schuldenproblem – zumindest auf lokaler und regionaler Ebene.
Mit Steuernachlass und Zuschüssen fördert Peking die Metropole Chongqing im westlichen Hinterland. Davon profitiert auch das Unternehmen Lifan, einer der führenden Autohersteller Chinas. Seine Werkhallen liegen am Fuß kahler Berge. Der 74-jährige Vorstandsvorsitzende Yin Mingshan ist in China eine Legende. Er trägt einen einfachen dunklen Kittel, der den Anzügen aus der Mao-Zeit gleicht. Vor 20 Jahren gründete er die Firma mit neun Mitarbeitern und einem Startkapital von umgerechnet 20 000 Euro. Jetzt setzt er Milliarden um. Auf seinem aufgeräumten Schreibtisch hängen an einem Ständer zwei Fähnchen, die rote chinesische Staatsflagge und die ebenfalls rote Firmenflagge von Lifan. Yin Mingshan stammt aus einer Bauernfamilie. Ein Auto sah er zum ersten Mal, als er acht Jahre alt war; mittlerweile gehört ihm eine Autofabrik. In weiser Voraussicht meint er: »VW wird Toyota als größtes Auto-Unternehmen der Welt ablösen. Aber der Volkswagen-Konzern kann nicht 100, 200 oder 300 Jahre auf Platz eins bleiben. Eines Tages wird er von einem chinesischen Autohersteller überholt.«
Am Eingang der Fabrikhalle prangt ein Foto, auf dem Präsident Hu Jintao Lifan-Chef Yin Mingshan per Handschlag begrüßt. Der Autofabrikant ist in China heute ein gesuchter Gesprächspartner, doch unter Mao noch wurde er als »kapitalistischer Ochsenteufel und Schlangengeist« ins Arbeitslager gesteckt, weil er Nähnadeln verkauft hatte. Vor dem Foto parkt als Ausstellungsstück ein Geländewagen von Lifan. »Den haben wir gerade herausgebracht«, sagt Chefingenieur Qin Chaofu. »Er wird sofort auf den Markt gehen. Alles ist fertig dafür.«
Der Chefingenieur hat eine typische neuchinesische Karriere hinter sich: Zwölf Jahre arbeitete er bei General Motors in Detroit, jetzt nutzt er die Erfahrung für seine Heimatstadt. Er zeigt ein Fließband, auf dem neue Wagen den letzten Schliff bekommen. Noch sind die Kapazitäten klein im Vergleich zu Wolfsburg oder Sindelfingen. Aber genau wie die Stadt Chongqing wächst auch ihre Industrie schneller – viel schneller: »Im letzten Jahr haben wir mehr als 60 000 Limousinen produziert. Davor waren es nur 30 000, wir haben die Anzahl also verdoppelt. In diesem Jahr werden wir noch einmal 50 Prozent drauflegen.«
Hunderte Arbeiter schrauben, bohren und schweißen. Hier spielen Personalkosten kaum eine Rolle. Technisch liegt Lifan nicht nur im Vergleich zum Westen
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