Mit Leerer Bluse Spricht Man Nicht
nackte Kanone« gekannt hatten. Wir beteten laut und inbrünstig, wir falteten die Hände.
»Nette Idee mit dem Handschuh!«, unterbrach eine kräftige Hausfrau in der Reihe hinter uns unseren spontanen religiösen Anfall. Ich zuckte mit den Schultern, sie deutete auf Gregs Hand. Anscheinend war sie sich ihrer psychosomatischen Verantwortung erneut bewusst geworden und auf das Vierfache ihrer Normalgröße angeschwollen. Sie war eine schwarze Presswurst an Gregs Arm, ein Boxhandschuh, der aus allen Nähten platzte. Es war selbst im Angesicht des Todes ein widerlicher Anblick. Greg fand ihn natürlich faszinierend. Die Leute um uns herum fanden es cool: »Genau, Bruder, du zeigst es ihnen. Der Handschuh hat nicht gepasst, also ist O. J. nicht schuldig!«
»Wo hast du das Ding her, ich will auch so eines!«
»Seht ihr, Leute, es ist keine Frage von Hautfarbe hier, es geht einfach darum, ob man an O. J. glaubt oder nicht. Wie unser Freund hier!«
Die Umstehenden klopften uns auf die Schultern, wir alle stimmten ein in den Schlachtruf: »The glove didn’t fit! The glove didn’t fit!«
Greg reckte seine riesige Faust am höchsten. Er schrie,schwitzte, umarmte die Umstehenden und hörte auf das, was sie zu ihm sagten. Und ich sah mir die Szene an. Ich dachte in diesem Moment nicht darüber nach, dass Greg seine Kindheit in den Zeiten der Apartheid verbracht hatte. Auch nicht über die Tatsache, dass seine Eltern durchweg schwarzes Personal auf ihrer Farm beschäftigten und Greg sich trotzdem nie mit der Frage des allgegenwärtigen Rassismus, ob in Südafrika oder hier, beschäftigt hatte. Er war sein bisheriges Leben lang zu sehr damit beschäftigt gewesen, sich alles anzuschauen und sein Urteil nur aufgrund von optischen Gesichtspunkten zu fällen. Etwas war schön oder faszinierend, widerlich oder grotesk. Aber bisher hatte es ihn nicht näher betroffen. Was ich in diesem Moment sah, war ein dreißigjähriger Mann, der gerade auf die Welt gekommen war und zu Recht befürchtete, sein neues Leben ganz schnell wieder zu verlieren, wenn er nicht mit allen Sinnen darum kämpfte. Er flippte vollkommen aus, und seine schwarze Hand an seinem weißen, elektrisierten Körper wirkte zugleich irgendwie schön, faszinierend, widerlich und grotesk.
Ich war so mit diesem Bild beschäftigt, dass ich nicht sofort bemerkte, dass O. J. Simpson freigesprochen wurde. Ich hatte damit gerechnet, dass sich, in diesem unwahrscheinlichen Fall, eine riesige Party vor Ort ergeben würde, dass die Menschen jubeln, trinken und noch höher springen würden. Ein weiteres untrügliches Zeichen wäre gewesen, dass Greg aus Erleichterung einen Herzstillstand erlitten haben und tot umgefallen sein würde. Doch als die Nachricht zu uns durchdrang,nickten die Menschen bloß, einige schrien kurz und bekräftigend auf, dann zerstreute sich die Menge. Langsam und gesittet spazierten alle zu ihren Autos oder zu den Bussen, die plötzlich aus dem Nichts wieder aufgetaucht waren. Die Zeitung »L. A. Weekly« hatte sich auf diesen unwahrscheinlichen Fall vorbereitet, und Zeitungsverteiler drückten jedem Passanten ein Freiexemplar sowie eine riesige schwarze Pappkarte in die Hand, auf der »Aquitted« – »Freispruch« – stand.
Auf der Rückfahrt nach Hollywood war Greg sehr schweigsam. Er umkrallte seine »Aquitted«-Karte wie ein altes Mütterlein seine Handtasche. Mir selbst wollte auch kein gutes Gesprächsthema einfallen. Der ganze Bus schwieg, die meisten Passagiere blickten nachdenklich aus den Fenstern. Als mir doch ein leicht angetrunkener Rastafari auf die Schulter tippte und meinte: »Wir haben euch doch immer gesagt, unser Mann ist unschuldig«, wurde er von allen Mitreisenden strafend niedergestarrt.
Greg und ich stiegen an der Vine Avenue aus, um noch ein paar Meter zu gehen. Hier, weit weg von der imaginären Stadt namens Downtown L. A., war die Stimmung gelöster, die weißen, pakistanischen und asiatischen Ladenbesitzer wirkten erleichtert, packten ihre Schrotflinten wieder hinter die Ladentheke und grinsten den hypnotisierten Greg schief an. Die Schwarzen begrüßten uns mit dem Victory-Zeichen, Greg starrte vor sich hin. Vor einem Zeitungsstand, dessen Inhaber schnell reagiert hatte, blieben wir stehen.
»O. J. free! The glove didn’t fit!«, stand dort.
»Er hat es getan, oder?«, fragte Greg mich plötzlich.
»Mit einiger Wahrscheinlichkeit«, erwiderte ich.
»Die Leute, ich meine, die Leute vor dem
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