Mit Leerer Bluse Spricht Man Nicht
sechse, die haben sich aber auch gefreut, die Leute. Also kannste noch ’ne Mütze mitnehmen oder ’nen Schirm.«
Ich nehme das Angebot dankend an und habe somit ganz nebenbei das erste Weihnachtsgeschenk organisiert. Denn ich bin mir ziemlich sicher, dass meine Mutter noch keine Mütze in Reggae-Farben besitzt, so eine mit angenähten Rastazöpfen. Wenn sie die sieht, freutsie sich anschließend umso mehr über den neuen Schal. Mit Liebe schenken, aber auch mit Köpfchen, sage ich immer.
Zu Hause angekommen, ist auch mein Vater wach. Wir beide haben noch so einiges auf unserem Zettel. Zuerst die Gans abholen.
Zu Weihnachten wollen wir immer eine liebevoll aufgezogene Ökogans haben. Da trifft es sich hervorragend, dass Papas Onkel Utti diese züchtet, so im ganz kleinen Stil. So klein, dass die Gänse Namen haben und wir sie bei unseren diversen vorweihnachtlichen Besuchen streicheln können, wenn sie glückselig hinter Onkel Utti herlaufen.
Als wir bei Onkel Utti ankommen, lebt unsere Vivien noch. Onkel Utti verspricht, das sofort zu ändern, die muss man ja nicht einfangen, die Vivien, die ist ja eh die liebste von allen, die schläft ja sogar im Haus.
Mein Vater und ich beschließen, dass wir Vivien nicht essen wollen. Keiner soll Vivien essen. Also gibt Papa Onkel Utti siebzig Euro, und der verspricht, Vivien keine Feder zu krümmen. Wir glauben ihm das, wie jedes Jahr, obwohl wir kein Lebenszeichen von Tiffany, Audrey oder Gudrun erhalten, die wir in den letzten Jahren ebenfalls nicht essen wollten, obwohl Tiffany schon tot war.
»Die sterben ja auch mal ganz natürlich«, sagt Onkel Utti noch, als er uns vom Hof winkt, in der einen Hand die Geldscheine, in der anderen das Beil.
Also auf zum Real-Markt, eine namenlose polnische Mastgans kaufen. Hier muss ich sehr auf meinen Papa aufpassen, damit er nichts kauft, wovon er meint, dasser das noch nicht hätte. In einem unbeobachteten Moment schafft er es, doch noch eine Munddusche in den Einkaufswagen zu packen. Sie sieht der Munddusche, die meine Mutter gestern für ihn gekauft hat, sehr ähnlich. Die Geschmäcker gleichen sich an nach fünfunddreißig Jahren Ehe. Ich schimpfe nicht mit meinem Vater, schließlich ist Weihnachten. Das reicht ihm als Geschenk.
Als wir wieder zu Hause sind, ist meine Mutter wach und direkt in weihnachtlicher Aufregung, als sie die Munddusche sieht. Die müssen mein Vater und ich wieder umtauschen, allerdings erst später. Vorher ruft meine Mutter unsere Nachbarn an und fragt, ob sie in diesem Jahr die Beilagen machen, wie in jedem Jahr. Die Nachbarn bestätigen die Beilagenzubereitung, sie müssten nur noch Knödel und solche Sachen einkaufen. Das bringt Mutter nun vollends in die richtige Stimmung. Ich werde geschickt, Knödel und solche Sachen einzukaufen.
Im Supermarkt treffe ich die Nachbarin. Wir beide sind beladen mit Knödeln, wissen aber beide nicht mehr, was »solche Sachen« noch mal sind. Beide trauen wir uns nicht, meine Mutter deshalb anzurufen, und gehen wieder in die Kneipe, um »solche Sachen« bei einem Bier zu klären. Kurz nach Ladenschluss fällt uns ein, dass mit »solche Sachen« wahrscheinlich Rotkohl gemeint ist. Wir finden noch welchen im Keller, natürlich nicht den guten, aber der passt wenigstens zur polnischen Gans.
Weil der Real-Markt länger geöffnet hat, fahren Papa und ich die Munddusche umtauschen, gegen einen singenden Elch. Der Elch, den wir schließlich erwerben, istanders als seine Kollegen, die immer nur »Jingle Bells« gesungen haben. Unser Elch singt »You are my Sunshine, my only Sunshine«, und zwar nicht dann, wenn man einen Knopf an seinem Geweih drückt, sondern dann, wenn man den Knopf aus Versehen loslässt.
»So einen Elch wird Mama dir bestimmt nicht schenken«, lobe ich meinen Vater für seine Kaufentscheidung, »außerdem passt er gut zu dem singenden Barsch!«
Mein Vater freut sich schon darauf, gleich den Barsch aus dem Keller zu holen, aber vor dem Barsch holen wir noch Andrea vom Bahnhof ab. Andrea kommt seit fünf Jahren an Weihnachten zu uns, weil ihre Familie noch komischer ist als meine. Zumindest anders komisch, denn die verstehen nicht, dass Andrea lieber bei einer anderen Sippe feiert. Also erzählt Andrea ihrer Familie, dass sie ganz alleine mit mir in Köln das Weihnachtsfest feiert. Um so hemmungslos lügen zu können, muss Andrea sich betrinken. Angetüdelt wie sie ist, bekommt sie die Aufgabe, bis zum Abend fest auf das Elchgeweih zu drücken, damit
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