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Mit Nackten Haenden

Titel: Mit Nackten Haenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simonetta Greggio
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wie mit Tusche gezeichnet, in der Fensteröffnung klebten. Eine Weinranke kräuselte sich am aufgeklappten Laden. So fand mich die Frau später, als sie hineinkam,
um das Frühstück zu bereiten. Mit unseren trockenen Kleidungsstücken in der Hand begrüßte sie uns mit einem schlichten »Na, gut geschlafen?«, bevor sie sich ans Werk machte. Gio wachte auf, er streckte sich und blökte: »Guten Morgen, Madame, ja, danke der Nachfrage, Gott, habe ich jetzt einen Hunger.«
    Auf dem Tisch standen Kaffee, Milch, Butter, ein Baguette und ein Glas hausgemachte Marmelade. Der kleine Raum wärmte sich schnell auf. Als Gio sich noch unter der Decke wand, um Slip und Jeans anzuziehen, betrat Sébastien wohlgekämmt mit Seitenscheitel den Raum. Als Zorro verkleidet. Seine Mutter schenkte ihm Kakao ein, während Gio anbot, ihm ein Butterbrot zu schmieren. Wir hatten noch gar nicht zu Ende gegessen, als sie uns zur Eile antrieb und dafür um Entschuldigung bat, heute hatte der Schulpsychologe Sprechstunde und sie einen Termin bei ihm. Als wir dann im Gänsemarsch nach unten gingen, blieb Sébastien abrupt stehen und verkündete, keinen Schritt mehr ohne seinen Degen zu tun.
    Gio ging wieder nach oben, um ihm den Degen zu holen.

W as könnte ich mehr über Gio sagen, wenn man mir jetzt dieselben Fragen stellen würde wie beim Prozess? Natürlich war er noch ein Kind. Warum sollte ich mich überhaupt rechtfertigen, wenn ich meine Entscheidungen doch in Kenntnis der Tatsachen getroffen habe? Gio war bald fünfzehn, was hätte er anderes sein können als ein Kind? Ein intelligentes Kind, gewieft und gerissen, ein Idealist, einer, der sich - selten genug in diesem Alter - in seiner Haut wohlfühlte. Aber man vergisst leicht, wer man eigentlich ist, mit fünfzehn.
    Mit fünfzehn ist man alt genug, um in manchen amerikanischen Bundesstaaten Auto zu fahren: Man darf sich und andere am Steuer umbringen, aber man darf nirgends ein Bier kaufen. Mit fünfzehn ist es einem in Europa verboten, Pornos zu gucken - das Verbot gilt bis achtzehn -, ein junges Mädchen hingegen hat ab dem fünfzehnten Lebensjahr legalen Zugang zu Verhütungsmitteln, es darf Mutter werden, anonym entbinden, das Kind der Jugendfürsorge überlassen oder selbst das Sorgerecht ausüben, auch ohne elterliche Zustimmung. Mit
fünfzehn gehört man weder zur einen noch zur anderen Seite, man steckt mittendrin, auch wenn man schon vieles weiß, manchmal mehr als später.
    Gio jonglierte. Er meisterte seinen Alltag zwischen Kindheit und Erwachsenenalter und wusste, wenn es auf der einen Seite Probleme gab, würde er sie auf der anderen schultern müssen.
    Ich weiß schon lange, dass wir alle einen machtvollen Instinkt in uns tragen: nämlich den, unserem Schicksal entgegenzurasen. Gio und ich rasten, jeder für sich, auf das Schicksal zu, dabei waren unsere Bahnen so unausweichlich vorgegeben wie die Umlaufbahnen zweier Gestirne. Unser jeweiliges Alter war nur eine Komponente dieses Wettlaufs, der zum Zusammenprall führen musste.
    Was soll ich also noch erwähnen? Etwa den Milchreis, den er kiloweise zu sich nahm? Seine kurzlebigen Versuche, sich vegetarisch zu ernähren und nichts anderes zu essen als gewaltige Joghurtportionen mit Datteln, Mandeln, bündelweise Bananen und säckeweise Haferflocken? Die dicken Nutellabrote und die Tonnen geriebenen Parmesans? Seine Art, sich so liebevoll wie bissig über mich lustig zu machen, wie beispielsweise am Tag, als ich mich zu einem Friseurbesuch aufgerafft hatte und Gio beim Nachhausekommen davon erzählte, weil ich der Meinung war, für diese seltene Großtat Lob zu verdienen, und er nur sagte: »Du Ärmste, war der Salon geschlossen?«
    Da gab es auch seine überstürzten Rückzüge, wenn er sich gerade, nur mit Shorts bekleidet, im Garten befand und ihn wohl ein Gedanke oder auch das Streicheln der
Brise auf seiner Haut in Erregung versetzte, das verheerte Badezimmer, wo überall feuchte Handtücher herumlagen, und die Rasiercreme- und Zahnpastaspritzer bis zur Decke reichten, die offenen Schranktüren und aufgezogenen Schubladen, die Vorleger und Teppichläufer, die er auf den Tod nicht leiden konnte und die ich an den unmöglichsten Orten versteckt fand. Und natürlich unsere albernen Schlagabtäusche.
     
    »Was magst du am liebsten, Emma?«
    »Die Wäsche im Freien aufhängen, vor allem weiße Laken. Sie falten, sobald sie von der Sonne gebacken sind. Darin schlafen. Den Duft von Waschmittel und Kiefernnadeln einatmen.

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