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Mit verdeckten Karten

Mit verdeckten Karten

Titel: Mit verdeckten Karten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Marinina
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erfüllen sollte. Sie sollte die Kamenskaja anrufen und ihr genau berichten, was Dmitrij am Montag, Dienstag und Mittwoch vor seinem Verschwinden gemacht hatte. Die Kamenskaja hatte darum gebeten, ihr das mitzuteilen, und Dmitrij hielt diese Bitte für durchaus sinnvoll und gerechtfertigt.
    Es gelang Kira beim ersten Mal nicht, die Kamenskaja zu erreichen. Das Telefon wurde nicht abgenommen.
    4
    Erst am Sonntag gelang es Tschernyschew, Boris Schaljagin aufzutreiben, den ehemaligen Europaweltmeister im Sportschießen und jetzigen Kommandeur des Sonderkommandos. Schaljagin war in der Garage und versuchte verzweifelt, seinen unheilbar kranken Moskwitsch ins Leben zurückzurufen. Während er mit Andrej sprach, lag er auf dem Rücken unter dem Bauch seines Autos.
    »Eine Neunmillimeter-Stetschkin?« erkundigte er sich. »Das ist ganz normal.«
    »Was ist normal?« fragte Tschernyschew. »Etwas genauer bitte.«
    »Jeder gute Schütze bevorzugt eine Stetschkin«, erklärte Boris, während er auf dem Boden nach einer Schraube suchte. »Wenn dein Schütze etwas anderes benutzt hätte, hätte ich nachdenken müssen. Aber so ist alles ganz normal.«
    »Hältst du es für möglich, daß er einer unserer Mitarbeiter ist?«
    »Durchaus. Wo sollte ein ausgebildeter Schütze arbeiten, wenn nicht bei uns? Im Sport hat er keine großen Chancen, es ist schwer, sich als Sportler zu behaupten, also kommt er zu uns, zum Sonderkommando der Miliz. Oder er findet einen Job bei einer der neuen Geheimdienstfilialen. Wer braucht denn sonst noch seine besonderen Fachkenntnisse?«
    »Boris, denk bitte genau nach! Kann es sein, daß dieser Mensch einen Dachschaden hat und einfach grundlos einen nach dem andern abschießt? Ich muß wissen, ob es Sinn macht, daß ich weiterhin in den Akten der psychiatrischen Kliniken nach ihm suche, oder ob das die falsche Spur ist.«
    »Bei einem normalen Schützen ist das möglich. Bei einem Scharfschützen ist es ausgeschlossen.«
    »Worin besteht der Unterschied?«
    »Weißt du, was man bei uns sagt? Jeder Scharfschütze ist ein Schütze, aber nicht jeder Schütze ist ein Scharfschütze. Ein Schütze zeichnet sich durch sein Können aus, durch sein Auge, seine Hand. Ein Scharfschütze durch seinen Charakter, seine Persönlichkeit, eine besondere Psyche.«
    »Aber warum?« fragte Andrej erstaunt. »Ich möchte den Unterschied verstehen. Vielleicht komme ich in meinen Ermittlungen genau deshalb nicht weiter, weil ich da etwas nicht begreife.«
    Schaljagin warf einen Lumpen zur Seite, öffnete die Wagentür, setzte sich auf den Fahrersitz und holte eine Flasche Whisky unter dem Sitz hervor.
    »Willst du?« fragte er Tschernyschew. »Aber nur aus der Flasche. Ich wußte ja nicht, daß du kommst, darum habe ich kein Glas mitgebracht.«
    »Nein, danke.« Andrej schüttelte den Kopf.
    »Ist es wegen der Flasche oder weil du nüchtern bleiben willst?«
    »Ich muß nüchtern bleiben. Muß heute noch bei meinem Chef erscheinen.«
    »Na dann.« Schaljagin nickte verständnisvoll. »Verstehst du denn wenigstens irgend etwas vom Schießen?«
    »So gut wie gar nichts«, gab Andrej zu. »Nur so viel, wie man bei der normalen Ausbildung lernt. Ich erfülle die Norm, aber unsere Normen sind im Vergleich zum Leistungssport nicht einmal die der ersten Schulklasse.«
    »Dann werde ich dir ein paar Worte darüber sagen, damit du das Wichtigste verstehst. Ein Schütze muß in einer bestimmten Zeit eine bestimmte Anzahl von Schüssen abgeben, und die Schüsse werden ungefähr das vorgegebene Ziel treffen. Er muß sich zehn Sekunden lang konzentrieren, zehn Schüsse abgeben und dabei versuchen, eine möglichst hohe Trefferdichte zu erreichen. Nach zehn Sekunden kann er sich entspannen und eine Zigarette rauchen. Der Scharfschütze hingegen – das ist eine ganz andere Geschichte. Das ist ein Jäger, der einen Platz aussucht und wartet. Stundenlang. Tagelang. Da gibt es keine Entspannung und keine Zigarettenpausen, weil das Opfer in jeder Sekunde auftauchen kann. Aber das Wichtigste ist, daß der Scharfschütze nur einen Schuß hat. Verstehst du? Nur einen einzigen. Nicht zehn, wie der normale Schütze, sondern nur einen einzigen, von dem alles abhängt. Zum Beispiel hat ein Erpresser eine Geisel genommen und hält sie in einem Haus fest. Du kennst diese Situation.«
    »Ja, natürlich.« Andrej, der Schaljagin aufmerksam zuhörte, nickte.
    »Es erscheint also der Scharfschütze, er schleicht sich an das Haus heran, bezieht Position und

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