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Mit verdeckten Karten

Mit verdeckten Karten

Titel: Mit verdeckten Karten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Marinina
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Ende zu führen. Der kleinste Hinweis auf ein mögliches Mißlingen bewog ihn sofort dazu, die Dinge zu überdenken oder radikale Entscheidungen zu treffen, und das bewahrte Kabanow viel sicherer vor Unannehmlichkeiten, als dies Beziehungen, Freundschaften und Geld vermochten. Ein Leck in einem Schiff kommt nicht von ungefähr, pflegte er zu sagen. Entweder hast du nicht bemerkt, daß derjenige, der das Schiff gebaut hat, ein Nichtskönner ist, obwohl du es hättest merken können und müssen, du hast dich dem Schiff anvertraut, ohne seinen technischen Zustand zu überprüfen, oder du hast die drohende Gefahr unterschätzt. In jedem Fall bist du selbst schuld, wenn du ertrinkst. Bis zum heutigen Tag hatte es in Kabanows Schiff noch nie ein Leck gegeben.
    Vitalij Nikolajewitschs organisatorische Fähigkeiten zeigten sich schon zu der Zeit, als er noch Schüler war. In der fünften Klasse, als die Kinder in den Pionierzirkel aufgenommen wurden, wählte man ihn zum Brigadeleiter. Am Ende des Schuljahres brachten alle zehn Mitglieder seiner Brigade Zeugnisse nach Hause, in denen der Glanz der Einser höchstens da und dort von einer Zwei getrübt war. Die Eltern freuten sich, die Lehrer staunten, die Mitschüler waren neidisch. Vitalij Kabanow machte aus seinen Methoden kein Geheimnis, bereitwillig erklärte er jedem, daß die Fähigkeiten eines einzelnen stets allen zugute kommen mußten. Der eine in seiner Brigade war besonders gut im Schreiben, er machte nie orthographische Fehler und mußte allen anderen Nachhilfe in Russisch geben. Der andere hatte eine Mutter, die als Übersetzerin arbeitete und den Kindern erklärte, was sie im Deutschunterricht nicht verstanden. Der dritte hatte einen Großvater, der Geschichtsprofessor war und den Kindern bereitwillig vom alten Ägypten erzählte, vom König Tutanchamun und dem Untergang des Römischen Reiches. Kurz, der energische Brigadeleiter hatte alle seine Pioniere und deren Familien in seine Sache eingespannt.
    In der achten Klasse, als es Zeit wurde, in den Komsomol einzutreten, war Kabanows Zehnergruppe in aller Munde, damals erlangte Vitalij den Ruf der »Lokomotive, die jeden Zug hinter sich herziehen kann«. An der Hochschule wurde das aktive Komsomolmitglied bei ehrenamtlichen Arbeitseinsätzen an die desolatesten und problematischsten Fronten geschickt. Mit seinem Organisationstalent brachte Kabanow jeden noch so schwerfälligen Mechanismus in Gang, und sobald dieser Mechanismus fehlerfrei zu funktionieren begann, übertrug man ihm eine neue Aufgabe. In dieser Funktion als »Feuerwehr« verbrachte er sein Leben bis zum Alter von achtundvierzig Jahren. Dann verließ er den Staatsdienst und begann, sich seinen eigenen Geschäften zu widmen. Zu dieser Zeit stand er bereits im Ruf eines despotischen, repressiven Anführers, blieb aber weiterhin die Lokomotive, die jeden, der sich an sie anhängte, aus der unheilvollsten Lage herauszog.
    Heute wurde Vitalij Nikolajewitsch fünfundfünfzig Jahre alt, und gerade heute kam ihm der Gedanke in den Sinn, daß seine Menschenkenntnis gar nicht so gut war, wie er selbst und andere immer geglaubt hatten.
    »Hast du gestern im Fernsehen die neuesten Meldungen aus dem Polizeibericht gesehen?« fragte er, ohne sich umzudrehen.
    »Ja, hab’ ich«, antwortete der kleine, hagere Mann mit den großen dunklen Augen und den buschigen Augenbrauen, der bewegungslos auf einem Sessel neben der Tür saß. Die leichte Lederjacke verbarg seine gedrungenen, stählernen Muskeln und die Pistole, die er in einer Revolvertasche unter dieser Jacke trug.
    »Und was meinst du, Gena? War es das, was uns versprochen wurde?«
    »Es sieht ganz so aus. Man hat gesagt, daß es bereits die vierte Leiche ist, die in der Gegend gefunden wurde, und daß es sich auch diesmal um einen Mord durch Genickschuß handelt. Genau so, wie man es uns angekündigt hat.«
    »Und daß die Morde im Abstand von etwa einer Woche begangen werden«, fügte Kabanow hinzu. »Interessant. Sehr interessant. Geh mal und sieh nach, was unser freier Schütze vom Dienst macht.«
    Der hagere Gena erhob sich leichtfüßig und verließ lautlos das Büro. Nach einigen Minuten kehrte er zurück.
    »Alles still und friedlich, Vitalij Nikolajewitsch«, sagte er. »Er lächelt, er strahlt, so, als wäre überhaupt nichts passiert.«
    »Keinerlei Anzeichen von Anspannung oder Nervosität?«
    »Nicht die geringsten.«
    »Sehr interessant«, wiederholte Kabanow nachdenklich. »Es sieht so aus, als

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