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Mit verdeckten Karten

Mit verdeckten Karten

Titel: Mit verdeckten Karten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Marinina
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Nachbarwohnung zu gelangen. Solange das Wetter sonnig und warm war, bestand jedenfalls die Hoffnung, daß die Balkontür der Nachbarn offenstand.
    Kiras Zimmer gefiel ihm. Es war hell und geräumig, nur mit wenigen Möbelstücken eingerichtet, so daß man viel Platz hatte. Platonow war angenehm überrascht von der Zweckmäßigkeit, die er in der Behausung der bescheidenen Bibliothekarin entdeckte. Es war klar, daß sie sich bei ihrem Gehalt keine luxuriöse Einrichtung leisten konnte, aber die billigen Möbel, die hier standen, schienen speziell für diesen Raum ausgesucht und angefertigt zu sein. Die graublauen Töne der Polstergarnitur und des Wandteppichs harmonierten sehr gut miteinander, nur die Tapeten paßten ganz und gar nicht dazu. Offensichtlich waren sie schon seit langer Zeit an der Wand und stammten noch vom Vormieter. Nun ja, sagte sich Platonow, wenn Kira mit der Wohnungsrenovierung einverstanden ist, werde ich dieses Zimmer in Ordnung bringen.
    An Büchern war nicht sehr viel da, aber das schien verständlich. Wenn jemand in einer Bibliothek arbeitete, hatte er Zugang zu allen Büchern und brauchte sich selbst keine zu kaufen. Aber gerade deshalb hatten die Bände, die Kiras Eigentum waren, eine besondere Bedeutung. Die Bücher, die sie kaufte, um sie ständig zur Hand zu haben, mußten zeigen, wer und was sie war. Überraschenderweise entdeckte Platonow keinen einzigen jener berühmten Liebesromane, die in Taschenbuchform erschienen, weiße und gelb-blaue Bändchen, die massenhaft produziert und von den einsamen Moskauerinnen verschlungen wurden. Im Regal standen etliche Bände aus der Reihe »Internationale Bestseller«, Sidney Sheldon, Vera Kaui, Jacky Collins. Außerdem ein paar Bücher von Dean Koontz, was Platonow besonders erstaunte. Er selbst hatte diesen Autor nie gelesen, er wußte nur, daß es sich um Mystisches, Phantastisches und ähnlichen »Schund« handelte, den sein dreizehnjähriger Sohn las. Sollte Kira etwa einen so kindlichen Geschmack haben? Unter den Büchern waren auch einige Krimis, aber die Namen der Autoren sagten Dmitrij nichts. Das Prinzip, nach dem Kiras Privatbibliothek zusammengestellt war, blieb für ihn im dunkeln. Aber das Wichtigste hatte er herausgefunden. Kira las keine Liebesromane, sie träumte nicht von der großen, überirdischen Liebe, von dem wunderbaren Prinzen in Gestalt eines Millionärs, der unbedingt dunkles Haar und blaue Augen haben mußte, einen harten Mund und ein männlich markantes Kinn. Wenn Dmitrij gelegentlich die öffentlichen Verkehrsmittel benutzte, sah er den Fahrgästen gern über die Schulter, in die Bücher, die sie lasen. Die Frauen waren oft in Liebesromane vertieft, und er wunderte sich immer wieder darüber, wie sehr sich in diesen Büchern alles glich. Der Mann mit den blauen Augen und dem markanten Kinn behandelt die Frau kalt und abweisend, er ignoriert oder demütigt sie, auf jeden Fall kann er sie ganz offensichtlich nicht ausstehen. Dann aber stellt sich plötzlich heraus, daß er sie in Wirklichkeit wahnsinnig liebt, sie liebt ihn natürlich auch, und sie gehen miteinander ins Bett, was der Autorin die Möglichkeit gibt, sich auf anderthalb bis zwei Seiten hingebungsvoll der detaillierten Beschreibung dieser delikaten Beschäftigung zu widmen. Dmitrij Platonow fand das alles schrecklich amüsant, einmal hatte er sogar versucht, aus Lena herauszubekommen, was an diesem wenig aufregenden, süßlichen Kitsch die Frauen so faszinierte, aber Lenas Antwort war so kalt und geringschätzig gewesen, daß er fast erschrak.
    »Wenn du schon selbst keine gute Literatur liest, dann blamiere dich wenigstens nicht mit deinen dummen Fragen«, sagte sie und strich ihm herablassend durchs Haar. »Glaubst du etwa, daß ich diesen Unsinn lese?«
    Dmitrij dachte mit Zärtlichkeit an Lena und ertappte sich bei dem Gedanken, daß er ihr gegenüber nicht die geringste Schuld empfand. Er war am Mittwoch abend zu ihr gekommen, hatte bei ihr übernachtet und war am nächsten Morgen sang- und klanglos verschwunden. Er hatte sie nicht angerufen, hatte ihr nichts erklärt, und heute war bereits Sonntag. Wahrscheinlich war sie außer sich. Ob Sergej ihr gesagt hatte, daß er sich versteckte, oder tat er so, als wüßte er von nichts? Nein, um Lena machte Platonow sich keine Sorgen, sie hatte ihren Bruder Sergej, der sich um sie kümmerte, der ihr notfalls irgendeine erfundene Geschichte erzählen würde. Aber da war Valentina. Es war nicht das erste Mal,

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