Mit verdeckten Karten
Telefongespräch noch einmal von Anfang an durchgehen, es analysieren und in einzelne Atome zerlegen, um herauszufinden, welche Fehler sie gemacht hatte im Gespräch mit der Unbekannten, die Platonow auf sie angesetzt hatte. Eines hatte sie auf jeden Fall richtig gemacht. Sie hatte der Frau keine einzige direkte Frage nach dem verschwundenen Verdächtigen gestellt. Sie hatte nicht danach gefragt, wer sie war, woher sie ihren Namen und ihre Telefonnummern kannte, wo Platonow sich versteckt hielt und wann sie wieder anrufen würde. Sie hatte nicht versucht, der Fremden ihren Willen aufzuzwingen. Die Frau hatte angerufen, um ganz bestimmte Dinge zu sagen, und Nastja hatte ihr diese Möglichkeit gegeben. Alles, wovon Platonow die Moskauer Kripo durch sie in Kenntnis setzen wollte, hatte sie gesagt, und darüber hinaus hätte Nastja sowieso kein Wort aus ihr herausbekommen. Es wäre völlig sinnlos gewesen, ihr weitere Fragen zu stellen. Nastja hatte sich offenbar ganz richtig verhalten, sie hatte die Frau nicht gegen sich eingenommen. Andererseits hatte sie auch keine überflüssige Freundlichkeit an den Tag gelegt, jedenfalls hatte sie ihr deutlich zu verstehen gegeben, daß die Frage nach Platonows Schuld nicht vom Tisch war und daß es durchaus sein konnte, daß sie auch morgen, nach der Überprüfung seiner Aussage, nicht vom Tisch sein würde.
Eines war jedenfalls klar: Platonow befand sich in Moskau, er versteckte sich in der Wohnung dieser Frau und wartete ab. Nastja mußte zugeben, daß das gar nicht so dumm war. Anstatt sang- und klanglos unterzutauchen, versuchte er, in den Lauf der Dinge einzugreifen und sich zu rechtfertigen. Solange er des Mordes und der Bestechlichkeit verdächtig war, versteckte er sich in der Hoffnung auf einen anständigen, klugen Menschen, der ihm helfen würde. Und sollte er schuldig sein, dann konnte man es ihm erst recht nicht verdenken, daß er sich versteckte. Es war nur zu natürlich, daß ein Verbrecher der Kripo gewisse Hindernisse in den Weg legte, um seine eigene Haut zu retten.
8
General Iwan Alexejewitsch Satotschny stand bereits in der Tür, als das Telefon läutete. Es war fast zehn Uhr abends, eben erst hatte sein sechzehnjähriger Sohn Maxim aus der Diskothek angerufen und gesagt, daß man ihn verprügelt hätte, es sei aber nicht schlimm, er würde sich jetzt auf den Heimweg machen. Der General wußte, daß sein Sohn einen sehr mannhaften Charakter hatte, er hielt es deshalb für möglich, daß die Prügel, die der Junge bezogen hatte, weit schlimmer waren als er zugab, vielleicht hatte man ihn auf den Kopf geschlagen, so daß er auf dem Heimweg schlimmstenfalls sogar das Bewußtsein verlieren konnte. Deshalb hatte Iwan Alexejewitsch beschlossen, zur nächsten Haltestelle der Metro zu gehen, um Maxim abzuholen.
Er hatte bereits den Schlüssel im Schloß umgedreht und wollte aus der Tür gehen, aber das Läuten des Telefons rief ihn noch einmal zurück.
»Iwan Alexejewitsch?«
»Ja.«
»Sagt Ihnen der Name Platonow etwas?«
»Natürlich.«
»Platonow setzt auf Sie. Sie sind der einzige Mensch, dem er vertraut. Deshalb hat er mich gebeten, Ihnen zu sagen, daß Sie das Hauptglied in der Kette sind. Wenn sich eines der Kettenglieder, die sich von rechts und links an Sie anhängen werden, als faul oder angesägt erweisen sollte, wird die ganze Kette reißen. Auf Wiederhören, Iwan Alexejewitsch.«
Der Hörer wurde aufgelegt. Der General verharrte noch einen Moment mit nachdenklichem Gesichtsausdruck, dann verließ er die Wohnung, um seinem Sohn entgegenzugehen.
SIEBTES KAPITEL
1
Am Sonntag erwachte Platonow noch vor dem Morgengrauen, zum ersten Mal fühlte er sich ausgeschlafen und erholt. Am Vortag war Kira spätabends zu ihren Eltern auf die Datscha gefahren, sie hatte versprochen, mit einem der ersten Züge zurückzukommen, so daß Dmitrij die Nacht allein in der Wohnung verbracht hatte. Endlich war es ihm möglich gewesen, sich wenigstens etwas zu entspannen, weil niemand da war, dem er etwas Vorspielen mußte.
Er duschte kalt, rasierte sich sorgfältig, frühstückte provisorisch und begann, die fremde Wohnung zu inspizieren, in der er sich noch Gott weiß wie lange würde aufhalten müssen. Er ging durchs Zimmer und betrachtete als erstes den Balkon, um festzustellen, ob er im Fall unvorhergesehener Ereignisse von Nutzen sein konnte. Es war ein sehr kleiner, aber nicht zugestellter Balkon, im Notfall konnte man versuchen, über diesen Balkon in die
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