Mit Worten kann ich fliegen (German Edition)
Zum Beispiel brachte er Mom haufenweise lilafarbene Schwertlilien – ihre Lieblingsblume – oder er rührte ihr literweise Brausepulver mit Traubengeschmack an oder er brachte ihr große Teller mit Weintrauben. Ich weiß nicht, wo Moms Verlangen nach lila Zeug herrührte.
Statt stundenlang Natursendungen im Fernsehen anzuschauen, saß ich vor einem leeren Bildschirm in meinem Zimmer und dachte in der Stille einfach nur nach. Ich wusste, dass ein neues Baby viel Zeit in Anspruch nahm. Und ich wusste auch, dass
ich
viel Zeit in Anspruch nahm. Wie konnten meine Eltern überhaupt Zeit für uns beide finden?
Dann schoss mir ein wirklich schrecklicher Gedanke durch den Kopf. Was, wenn sie sich entschlossen hatten, die Vorschläge von Dr. Groß in Betracht zu ziehen? Ich konnte diesen Gedanken nicht wieder loswerden.
Eines Samstagnachmittags, ein paar Monate, bevor das Baby geboren wurde, lag ich zusammengerollt auf unserem Sofa und döste vor mich hin. Mom hatte Kissen um mich herumgestopft, damit ich nicht herunterfallen konnte. Toffee schlief in der Nähe, und Dads Lieblings-Jazz-Sender spielte ein langsames Saxophonstück. Mom und Dad saßen auf dem kleineren Sofa und redeten leise miteinander. Sie dachten sicherlich, dass ich schlafe.
»Was passiert, wenn?«, fragte Mom mit angespannter Stimme.
»Es wird nicht passieren. Die Wahrscheinlichkeit ist
so
gering, Liebling«, antwortete Dad, aber er klang unsicher.
»Ich könnte es nicht
ertragen
«, sagte Mom zu ihm.
»Du würdest die Kraft dafür finden«, sagte er ruhig. »Aber es wird nicht passieren. Die Wahrscheinlichkeit ist –«
»Aber was,
wenn?
«, unterbrach sie ihn beharrlich.
Soweit ich mich erinnern kann, war es erst das zweite Mal, dass meine Mutter zu weinen begann.
»Alles wird gut«, sagte mein Vater und versuchte, sie zu beruhigen. »Wir müssen positiv denken.«
»Es ist alles wegen mir«, sagte meine Mutter leise.
Ich wurde munter und hörte aufmerksamer zu.
»Wie meinst du das?«, fragte Dad.
»Es ist meine Schuld, dass Melody so ist, wie sie ist.« Mom weinte jetzt richtig heftig. Ich konnte kaum verstehen, was sie sagte.
»Diane, das ist verrückt! Du kannst eine derartige Schuld nicht auf dich laden. Solche Dinge passieren einfach.« Ich merkte, wie Dad versuchte, an ihre Vernunft zu appellieren.
»Nein! Ich bin die
Mutter!
«, jammerte sie. »Es war meine Aufgabe, ein Kind unversehrt in die Welt zu setzen, und ich habe es versaut! Jede andere Frau auf dem Planeten ist in der Lage, ein normales Baby zur Welt zu bringen. Irgendetwas stimmt mit
mir
nicht!«
»Liebling, es ist nicht deine Schuld. Es ist nicht deine Schuld«, und ich konnte hören, wie er meine Mutter an sich zog.
»Ach, Chuck, ich habe solche Angst, dass mit diesem Baby auch etwas nicht stimmt!«, sagte sie mit bebender Stimme.
»Bitte, red nicht weiter – denk nicht einmal daran«, murmelte Dad. »Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, statistisch gesehen? Zwei Kinder, die ...«
Und plötzlich konnte ich ihn nicht mehr hören, weil mein Kopf zu bersten drohte von all den Sachen, die ich gerne gesagt hätte, aber nicht sagen konnte.
Ich wollte Mom sagen, dass es mir leidtat, dass sie so traurig und verängstigt war.
Dass es nicht ihre Schuld war.
Dass ich einfach so war, wie ich war, und dass sie nichts dafür konnte.
Am meisten schmerzte mich, dass ich ihr nichts davon sagen konnte.
Während Moms gesamter Schwangerschaft ließ die Aufmerksamkeit meiner Eltern mir gegenüber jedoch nie nach, obwohl – ja, ich gebe es zu – ich Angst gehabt hatte, dass das passieren würde. Als Moms Entbindungstermin näher rückte, packte Dad immer mehr mit an. Er übernahm einen Teil der Wäsche, den Großteil des Kochens und alles Heben und Tragen. Ich kam jeden Tag pünktlich zur Schule, bekam jeden Abend meine Geschichten vorgelesen, und wir drei warteten und hofften und beteten.
Aber Penny wurde perfekt und mit kupferrotem Haar geboren – passend zu ihrem Namen. Von der Minute an, als sie aus dem Krankenhaus nach Hause kam, war sie ein wirklich fröhliches Baby. Mom hatte einen richtigen kleinen Wonneproppen ins Haus gebracht.
Doch wahrscheinlich ist ein Baby für alle Eltern anstrengend, vor allem wenn sie bereits ein Kind wie mich zu Hause haben. Manchmal gab es Streit. Ich konnte sie durch die Schlafzimmerwand hören.
»Ich brauche mehr Hilfe, Chuck«, sagte Mom und versuchte, leise zu sprechen.
»Na ja, du widmest dem Baby mehr Aufmerksamkeit als
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