Mittelalterliche Klöster: Deutschland - Österreich - Schweiz
werden. Am Außenbau fallen die massiven Strebepfeiler auf, die wohl als spätmittelalterlicher Erdbebenschutz gedacht waren.
34 ▲ Reichenau im Bodensee (Baden-Württemberg), Oberzell, Stiftskirche St. Georg, Längsschnitt durch die Stiftskirche. Die Darstellung zeigt das nach Osten hin ansteigende Fußbodenniveau und die sich östlich darunter befindende Krypta.
|44| Obergeschoss befindet sich die Michaelskapelle. In der Ostwand öffnen sich zwei kleine Biforien zum Hauptschiff hin. Darüber wurden Mitte des 19. Jahrhunderts Wandmalereien freigelegt, die die Parusie Christi darstellen.
35 ▲ Reichenau im Bodensee (Baden-Württemberg), Oberzell, Stiftskirche St. Georg, Blick in die Westapsis. Gut zu erkennen sind die kleinen fensterartigen Biforien, die einen Sichtkontakt von dem Obergeschoss der westlichen Vorhalle in den Kirchenraum erlauben.
Die Baugeschichte soll hier nicht weiter interessieren. Das Augenmerk gilt der relativ gut erhaltenen Ausmalung des Kirchenraumes, die ein Hauptwerk ottonischer Malerei nördlich der Alpen darstellt. Sie ist jedoch nicht in der klassischen Fresko-Technik gearbeitet, wo schrittweise auf frischem Kalkputz gemalt wurde, sodass die Farbe mit dem Putz abbinden konnte. Spätere Korrekturen waren hier nicht ohne weiteres möglich. Vielmehr wählten die Maler eine Mischtechnik. Auf getrocknetem Putz wurde eine Vorzeichnung aufgebracht, danach systematisch die Farben von Hintergrund, Architektur und Figuren aufgetragen.
Im Chor und in den Seitenschiffen konnten nur noch Reste der einstigen Ausmalung gesichert werden. Ob die verlorene Westwand, die einst das Mittelschiff abschloss, ebenfalls bemalt war, kann nicht mehr gesagt werden. Die Bemalungen am Triumphbogen sowie die Ausgestaltung der Obergadenzone mit den Aposteln sind Nachschöpfungen des 19. Jahrhunderts. Die narrativen Szenen unterhalb des Lichtgadens sowie die Medaillons in den Arkadenzwickeln stammen wohl aus dem 10. Jahrhundert. Die Datierung kann aufgrund mangelnder Quellen und fehlender Vergleichsbeispiele nur als grober Anhaltspunkt dienen. An jeder Hochschiffwand befinden sich vier Szenen, die dem Uhrzeigersinn folgen. Sie sind durch Bildunterschriften ( tituli ) eindeutig identifizierbar. An der Nordseite von West nach Ost sind die Heilung des Besessenen von Gerasa (Mk 5,1 – 19), die Heilung des Wassersüchtigen (Lk 14,1 – 11), die Beruhigung des Sturmes (Mt 8,23 – 27, Abb. 36 ) und die Heilung des Blindgeborenen (Joh 9,1 – 38) dargestellt und auf der Südseite von Ost nach West die Heilung des Aussätzigen (Mt 8,1 – 13), die Auferweckung des Jünglings von Nain (Lk 7,11 – 16), die Auferweckung der Tochter des Jairus und die Heilung der an Blutfluss leidenden Frau (Mt 9,18 – 26) sowie die Auferweckung des Lazarus (Joh 11,1 – 45).
Die Farbigkeit ist harmonisch abgestimmt, die Bilder sind nach ähnlichen Regeln komponiert und die perspektivische Gestaltung des Mäanderstreifens unterhalb der szenischen Darstellung unterstützt die Leserichtung der bildlichen Abfolge. Die Szenen stammen durchweg aus dem Neuen Testament und fokussieren die Wundertätigkeit Christi, die zugleich für dessen göttliches Wirken steht. Es ist kein theologisch anspruchsvolles Programm, sondern appelliert eher an die emotionale Dimension des Glaubens. Bildliche Darstellungen ( imagines / picturae ) in den Kirchen sollten, so das berühmte Diktum von Papst Gregor dem Großen, als Literatur für Laien ( litteratura laicorum ) aufgefasst werden. Sie dienten jedoch keineswegs dem theologischen Wissenserwerb von Ungebildeten ( idiotae ). Allein die in Sankt Georg notwendig erschienenen tituli setzen zur theologischen Reflexion der Inhalte ein schriftkundiges Publikum voraus. Sieht man von Andachtsbild oder
|45| Altarbild ab, ging es bei den meisten bildlichen Darstellungen an oder in Kirchen, wie viele Äußerungen hochmittelalterlicher Theologen belegen, darum, die einfachen Gläubigen emotional zu bewegen und sie zu moralischen Reflexionen über das eigene Tun anzuhalten. Das Staunen, der Gesamteindruck im Sinne des mittelalterlichen Verständnisses von ornamentum vermittelten den Gläubigen auf sehr sinnliche Art und Weise eine Ahnung von der Größe, Schönheit und Allmacht Gottes.
36 ▲ Reichenau im Bodensee (Baden-Württemberg), Oberzell, Stiftskirche St. Georg, Wandmalerei an der Mittelschiffswand. Das Thema „Beruhigung des Sturmes“ bezieht sich auf das Evangelium nach Matthäus (8,23 – 27).
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