Mittelreich
mittlerweile nicht mehr Schlafsaal, sondern Vierbettzimmer, ordnete die mitgebrachten, frisch gewaschnen Kleidungsstücke in den Schrank und eilte dann, mit einem kleinen Umweg über den schon dunklen Speisesaal und die sauber aufgeräumte Küche, ein zweites Mal vorbei am Pfortenbruder, den er noch mal freundlich grüßte, und ging von da aus stracks hinüber in den Auerkeller auf der andern Straßenseite. Dort war schon ein harter Kern des Abiturjahrganges um den Schulstammtisch herum versammelt und trank Alkohol und rauchte filterlose Zigaretten. Dazu gesellte Semi sich und orderte ein Bier und einen Obstler.
Hat nicht ausnahmsweise und durch Zufall, eventuell, der eine oder andere von euch mein Abendessen mitgebracht, fragte er mit Brechreizcharme in die schon etwas angetrunkene Runde, ich stehe nämlich heftig unter Kohlendampf, und der Speisesaal hat ausnahmsweise mal natürlich wieder schon geschlossen, zumindest behauptet das der Pfortendödel.
Halb sieben! Halb sieben ist Schluss, belehrte ihn der Abraham mit pastoraler Strenge in Gesicht und Ton. Am Sonntag immer um halb sieben. Wir Kohlensäcke haben auch ein Recht auf Sonntagsruhe. Dafür beten wir für euch die ganze Woche und bespritzen euch mit dem geweihten Wasser – und faltete dabei die Hände, um sie im nächsten Augenblick schon wieder für den Segen aufzumachen. Ego te absolvo, sagte er mit Salbe in der Stimme, ego te absolvo samt unsern steifen Schwänzen und den prall gefüllten Säcken.
Dann griff er seinen Tonbierkrug am Henkel und schob ihn bis zur Mitte übern Tisch: zur Buße und auf ex! Alle Krüge stießen scheppernd an, und rülpsend spülten sie’s hinunter.
Und bestellten auf der Stelle bei dem runden Bauernmädel aus dem Dorf, das sie bediente, so unschuldsvoll und tapsig wie ein junges Kalb, jeder noch einmal das Gleiche und mit strenger Miene: Nachfüllen bitte, sprachen sie im Chor, nachfüllen und dann enthüllen! Und dem Mädchen schießt die Röte unschuldigen Schämens in Gesicht und Backen, jäh und erwartet, und glücklich sammelt sie die leeren Krüge wieder ein, die sie an die Brust gedrückt zur Schänke trägt, zum Wiederfüllen – fast wie ein Bild vom Bauernbruegel.
Semi war hinaus aufs Klo gegangen und trank in tiefen Zügen aus dem Wasserhahn. Aufgestützt aufs Handwaschbecken schaute er mit bösen Blicken in den Spiegel, Aug um Auge mit sich selbst. Noch einmal sog er Leitungswasser ein in großen Schlucken, bis es ihn von Grund auf würgte. Dann kehrte er zurück zum Feierabendritual.
Dort war schon die neu bestellte Runde auf dem Stammtisch angelangt, mit Schnaps garniert und rauchumhüllt wie ein Tabu. Weit vornüber beugte sich die Wirtin beim Servieren übern Tisch, schon eine um die vierzig und nicht mehr das süße Bauernmädel, das von ihr zuvor zum Schutze seiner Unschuld in die elterliche Obhut heimbefohlen worden war. Mit der Schürze wischte sie den ausgelaufenen Bierschaum vom polierten Buchholztisch, malte Strich und Kreuz mit Bleistift auf die Untersetzer, tief hinunter senkten sich die Köpfe bis ans frisch gewichste Buchenholz heran, stier glotzte krampfiges Begehren aus jungmännlichen Gesichtern. Sehnsüchte und Hoffnungen versenkten sich verstört und aus sichtslos ins schwer schaukelnde Brustfleisch der gereiften Frau.
Pass feil auf, dass deine Augen keine Füße wachsen, Bürscherl, sonst wirst hernach noch blind, warnte die Wirtin einen unter ihnen für die vielen. Auch die Frau genoss, wie zuvor das Mädchen, was ihr eher lästig, dem Mädchen eher peinlich war.
Hast noch eine Kleinigkeit zum Essen über, Auerin?, fragte laut der Semi, ich hab drüben nichts mehr abgekriegt, da war alles schon versperrt.
Depreziener kann ich dir noch machen, sagte die Frau, zwei Depreziener, die brauchen auch nicht lang, und Kartoffelbrei und Kraut dazu.
Ja, das bring mir, das ist gut.
Und wieder streckten sich die Arme aus bis hin zur Mitte übern Tisch, wo sie sich berührten und die Gläser klirrten. Und wieder soffen sie es aus auf ex und hinterher den Schnaps ... und wieder wieder und dann noch mal wieder ... und wie immer.
Und jedes Mal danach ging Semi wieder auf das Klo hinaus, achtete darauf, dass keiner folgte, und trank dort Wasser aus dem Hahn, bis es ihn würgte.
Beim vierten Exaustrinken blieb er länger weg. Aber auch nicht länger, wie ein normal Besoffner braucht, um seine Notdurft umstandshalber ein wenig umständlicher als nüchtern zu verrichten. So jedenfalls formulierte
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