Mittelreich
Stunden lang im Schlachthaus hängen. Die Cousine ließ er verschwinden. Danach schnitt er des Prinzen Glieder ab, zerteilte den königlichen Torso in handliche Stücke und legte sie eine Woche lang im großen Surfass in Salzwasser ein. Schließlich landete das Fleisch im Räucherkamin und kokelte da drin noch viele Wochen, bis es vergessen war.
Wenn man im zweiten Stock des Seewirtshauses die große Eisentür des Räucherkamins öffnete, hinter der das Fleisch an s-förmigen Eisenhaken zum Räuchern hing, konnte man jedes Wort verstehen, das zwei Stockwerke tiefer in der Küche gesprochen wurde. Oft unterhielten sich die Kinder der Seewirte durch diesen Kamin und erzählten sich Geschichten, indem der Erzähler sich oben in das schwarze Loch beugte und nach unten sprach, während die anderen in der Küche unten am Boden vor dem Loch hockten und zuhörten. Sie nannten den Räucherkamin den Geschichtenturm. Als seine Funktion eingestellt wurde, fand man verschrumpelte, tiefschwarze Fleischfetzen an verrosteten Haken, die im Wertstoffhof Qarzbichl entsorgt wurden. Der Prinz Konstantin übrigens, der von Bayern, kam Jahre später beim Absturz seiner einmotorigen Sportmaschine ums Leben. Bis dahin jedoch war er noch oft zu Gast im Seewirtshaus, regelmäßig und mit immer anderer Cousine, und die ganze Fami lie saß um des Prinzen Tisch herum und schaute den Herrschaften beim Essen zu.
Leo kam aus seinem Zimmer in die gemeinsame Küche und sah sich wie immer wortlos um. Er war jetzt Anfang sechzig und hatte, bis zu ihrem Tod vor sieben Jahren im Bombenhagel, alleine mit seiner Mutter zusammengelebt, die alles für ihn erledigt hatte, von der Essenszubereitung und -ausgabe bis zum Waschen, Bügeln und Einlagern seiner Wäsche in seinen Schrank. Er lebte bei ihr, wie ein Klostermönch im 12 . Jahrhundert in seinem Orden gelebt hatte: Er sah, wie das Essen auf den Tisch gestellt wurde, schmeckte es ab, aß es auf, sah zu, wie die Reste abgeräumt wurden, und wusste, dass alles von Gott kam – und von woher sonst, das wusste er nicht. Jetzt stand er ein bisschen in der Küche herum, in der das Fräulein Zwittau an Herd und Anrichte hantierte. Er schaute mal dahin, mal dorthin, sah auf den Herd und dann auf die Anrichte, und auch auf das Fräulein Zwittau sah er – sah aber eigentlich nichts. Dann ging er wieder zurück in sein Zimmer und studierte in Gedanken weiter die Welt und übte weiter an seinem Cello.
So war er: Er war. Mehr oder weniger. Das war seine Existenz.
In der gemeinsamen Küche, die sie mit dem Cellisten Leo Probst und dem Maler Alf Brustmann teilt, hantiert das Fräulein Zwittau. Wobei gesagt werden muss, dass das Fräulein der einzige Mensch ist, der dort ein Essen oder ein paar schmackhafte Kleinigkeiten zubereitet oder einen Tee aufbrüht. Die beiden Herren leisten ihr lediglich, mal der eine, dann wieder der andere, manchmal alle zwei, Gesellschaft, in der Hoffnung, zwischendurch ein Plätzchen oder eine andere Nascherei zugesteckt zu bekommen. Zum Essen gehen die beiden Herren regelmäßig ins Seewirtshaus, wo sie für eine symbolische D-Mark der auch schon wieder drei Jahre alten neuen Währung, meist jedoch umsonst, nur um ihrer Kunst willen, verköstigt werden.
In der Küche hantiert das Fräulein Zwittau.
Am Nachmittag wird es auf die Kinder des Seewirts aufpassen und sie versorgen. Deshalb bereitet es ein paar Kleinigkeiten vor. Der Tag ist schön, und die Kinder lieben es, mit dem Fräulein am Waldrand oben ein Picknick zu machen. Schon allein um dieses fremde, weil vor der Ankunft des Fräuleins im Seewirtshaus noch unbekannte und fast schon als schlüpfrig verdächtigte Wort Picknick überhaupt aussprechen zu dürfen, fragen sie jeden Tag mehrmals nach, wann denn wieder Picknick sei. Sobald die Sonne wieder scheint, pflegt dann das Fräulein Zwittau zu antworten. Unter drei riesigen Fichten werden sie dann auf vier Baumstümpfen sitzen, die im Kreis um einen fünften, den größten Stumpf, aufgereiht im Waldboden wurzeln und bald faulen werden, und da vom Fräulein verköstigt werden. Auf dem mittleren Stumpf wird es eine Tischdecke ausbreiten, vier Tassen draufstellen und vier Teller und dann die Thermosflasche mit dem Kakao aus dem Picknickkorb nehmen, dann den heißen Kakao in die Tassen gießen, und als Letztes wird es die drei Stück Marmorkuchen, die es in der Küche gerade vom Kuchenkranz geschnitten und dessen warmknuspriger Geruch den Cellisten Probst
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