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Mittelreich

Mittelreich

Titel: Mittelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef Bierbichler , MITTELREICH
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mit Radio, also Volksempfänger wie man frühers sagte, einem Plattenspieler mit zwei Geschwindigkeiten, die 78 für die Schellackplatten und die 33 für die neuen, für die ganz modernen. Und für die ist unten auch ein extriges Spezial regal für Platten drin. Und dann zieht er eine Schublade heraus, nimmt von der Anrichte herunter eine Plattenhülle, zieht – und schaut dabei, als würde er die geweihte Hostie beim Hochamt aus des Priesters Hand empfangen – Beethovens Messe heraus und legt sie auf dem Plattenteller auf mit solcher Vorsicht, dass der schon lang in tiefen Schlaf versunkne alte Fechner sich nicht mal mehr zu schnarchen traut. Laut und kratzig kracht es, beim Einsetzen der Nadel, so dass der Schreck durch alle Glieder und der Fechner aus dem Schlaf hochfährt –, aber dann setzt sanft und rein das Kyrie eleison ein. Die neue Zeit macht sich breit – und mit der alles verklärenden Sopranstimme der Kammersängerin Rothenberger durchdringt sie Stube, Haus und Stallung: Von Herzen – möge es zu Herzen gehen! steht auf der Plattenhülle.
     
    Bald ist es 11 Uhr in der Nacht geworden. Von der Mutter werden die Kinder ins Bett gebracht, während die Schwester, der Seewirt und die beiden jüngeren Mägde sich herrichten zum Kirchgang nach Kirchgrub in die Mette. Der Fechner wünscht allen eine gute Nacht und verschwindet in das Nebenhaus. Der Viktor wird von Philomena in die katholische Bauernregel eingeweiht, wonach ein gutes Jahr nur jener vor sich habe, der in der heiligen Weihnachtsnacht zur Mette gehe. Woraufhin der Viktor brummelnd ebenfalls ins Knechtquartier hinüberwechselt und nach fünf Minuten im Soldatenmantel wiederkommt. Einer für alle, alle für einen, denkt er ein wenig aufsässig in sich hinein – und dann gehen sie los, durch trocknen, kalten Schnee, dass es unter den Schuhen nur so knirscht, eine halbe Stunde lang, bis in die Kirchgruber Kirche hinein. Der Seewirt und die Schwestern haben ihren Platz auf der Empore oben unter den anderen Chormitgliedern eingenommen, die Mägde rücken auf der Frauenseite in der letzten Reihe eng zusammen, denn vorn sind alle Reihen schon besetzt mit Kirchgruber Bäuerinnen, die keinen Millimeter Platz für irgendeine Fremde und schon gar nicht für ein fremdes Dienstmensch machen. Auch am Heiligabend nicht. Aber schon wirklich nicht! In diesem Fall ist das ein Kirchentag wie jeder andre. Der Viktor drängt sich hinten, nah beim Ausgang, unter die dicht stehenden Kleinhäusler und Bierdimpfl, um nach dem Schlusssegen sofort die Kirche verlassen und eine Zubanzigarette anzünden zu können. Laut redet der Pfarrer und eindringlich von der Krippe im Stall und von den harten Herzen der Reichen, die niemals ins Himmelreich eingehen, ja eher noch ein Kamel durch ein Nadelöhr durchgehen würde. Und während die kleinen Bauern an dieser Stelle, Weihnacht für Weihnacht, ihre Blicke in die Augen der großen Bauern und die Bierdimpfl die ihren ins Auge des Dorfwirts zu senken versuchen, singt oben auf der Empore der Seewirt mit seinem tiefen Bass das Agnus Dei aus der Missa solemnis . Langsam erlöschen im Kirchenschiff die Lichterketten und die Spotscheinwerfer, die von Mesner und Pfarrer am Nachmittag noch aufgehängt und angeschraubt worden waren, um eine jubelnde Helle in die mitternächtliche Kirche und von dort in die Herzen der Menschen zu zaubern, und die nun langsam weniger wird und am Ende stehen bleibt im flackernden Licht der nun allein noch brennenden Kerzen und dem kleinen Lämplein über dem Stall des Jesuskindes in der Krippe, die auf dem Seitenaltar aufgebaut und von kasperltheaterhaften Hirten auf dem Feld bevölkert ist, die mitten auf einer bethlehemgrünen Wiese aus Waldmoos herumstehen. Und wie ein warmer Regenschauer geht nun das Lied von der Stillen und Heiligen Nacht auf die Gläubigen nieder, benetzt ihre Seelen mit Heiligkeit und ihre Augen mit Tränen um die verlorene uralte Zeit und bahnt sich schließlich den Weg durch weit aufgerissene, laut mitsingende Münder wieder nach draußen: Beinahe keiner, der jetzt nicht mitsänge.
    Und alle tragen sie, beim Heimgehen durch die kalte Nacht, wie alle Jahre wieder, dieses seltsam frohe, rätselhafte Glück im Herzen, das schon am nächsten Morgen wieder ungenutzt verschwunden sein wird: Uns ist heute der Heiland geboren.
     
    Am ersten Weihnachtsfeiertag, gleich nach dem Frühstück, schlachtete der Seewirt mit geübten Griffen den Prinz Konstantin und ließ ihn nach dem Ausweiden 24

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