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Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)

Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)

Titel: Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margarita Kinstner
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abermals über die Brücke ging, diesmal allein, und Joe immer noch hier stand, blieb er manchmal für eine halbe Pfeifenlänge stehen. Und oft stand auch Gery hier, wenn er von der Arbeit kam. Dann schauten sie zu dritt hinunter, bliesen den Rauch auf die Geleise, und Muzaffer lachte sein heiseres Lachen.
    Wenn jemand stirbt, sterben immer ein paar andere mit, denkt Gery, und dass er Muzaffer wohl nie wiedersehen wird. Nicht Muzaffer und nicht Joes Weingläser. Die Schmelzbrücke ist wieder eine gewöhnliche Brücke, wie jede andere in Wien auch, nicht mehr als ein Verbindungsstück von hier nach dort.
    Was brachte Joe nur dazu, täglich auf dieser Brücke zu stehen, seine Marionetten tanzen zu lassen und den Donauwalzer auf Weingläsern zu spielen? Das Geld konnte es nicht gewesen sein, denn Geld bekam er von seinem Onkel, dem Universitätsprofessor, genug. Regelrecht in den Hintern steckte es der alte Blasbichler seinem Neffen. Liebe bekam er trotzdem keine dafür. Joe hasste ihn. So sehr, dass er von den Stufen der Bäckerstiege direkt auf das glänzende Dach der unterhalb vorbeirauschenden Schnellbahn pinkelte, nur weil er seinen Onkel darin vermutete. Danach drehte er sich wieder zu Gery um und predigte von Arbeitsfreiheit, davon, dass man sich nicht verknechten lassen solle, dass alles eine Verschwörung der Reichen sei, ganz so, als hätte es das Pinkeln auf den Onkel nie gegeben, ja, als gäbe es selbst den reichen Onkel nicht.
    Es war sinnlos, mit Joe über Geld zu diskutieren, das hatte Gery bald begriffen. Joe brauchte nicht viel, und das, was er brauchte, bekam er von seinem Onkel. Und wenn ihm das Geld trotzdem einmal ausging, half er eben im Kasperlhaus, kümmerte sich um die Kulissen und sprang ein, wenn einer der Spieler ausgefallen war. Spielte das Gspensterl, den Boing oder die Hexe Tussifussi.
    Das war Joes Welt. Puppen und Tralala. Und wäre es anders gewesen, hätte Gery ihn auch nie kennengelernt.
    Straßenkünstler in Wien
lautete der Titel seines Abschlussprojektes für die Filmakademie. Vier Jahre ist es jetzt her, dass er die Kärntner Straße von der Oper zum Stephansplatz und wieder zurück lief und die Kamera auf Clowns, Artisten, Maler und Ziehharmonikaspieler hielt. Aber keiner zog ihn so sehr in seinen Bann wie der Kerl auf der Schmelzbrücke, der einfach nur auf dem rosa Klappstuhl saß und den Spaziergängern nachsah, vor ihm ein Tischchen mit halb gefüllten Gläsern, unter ihm die Westbahn. Gery stand auf der gegenüberliegenden Seite der Brücke. Fragte sich, ob der Typ wohl jemals auf seinen Gläsern spielte, oder ob sie nur Staffage waren, ein Alibi für einen Brückenjunkie, einen, der gerne den Autos und Fußgängern nachblickte, der die Gewohnheiten der anderen ausspionierte, Montag bis Sonntag, immer am selben Fleck hockend, wie eine fette Spinne, reglos, jede noch so kleine Veränderung wahrnehmend.
    Und dann kam auf einmal dieses Kind. Schwarz gelocktes Haar, schmutziges rosa Kleidchen. »Ayshe!«, rief die Mutter, doch das Mädchen achtete nicht darauf, schnurstracks lief es auf Joe und die Gläser zu, nahm eines davon in die Hand und führte es an den Mund. Die Mutter packte es am Arm, wollte es wegziehen, doch Joe lachte nur, nahm selbst ein Glas und trank einen Schluck daraus. Und dann grinsten sie einander an, Joe und das Mädchen, das Mädchen und Joe. Gery hob die Kamera, zoomte heran, Lachfalten und Grübchen. Und dann spielte Joe auf seinen Gläsern, nur für die kleine Ayshe spielte er ein Kinderlied, und sie dankte es ihm mit einem lauten Kinderlachen.
    Als das Mädchen weg war, ging Gery zu Joe hinüber, bot ihm eine Zigarette an und erzählte ihm von seinem Projekt. »Na, dann mal los«, sagte Joe, also hob Gery die Kamera und hielt sie auf Joes Gesicht und Joes Hände gerichtet, während dieser den Donauwalzer spielte. Zwei Töne passten nicht dazu. Als Gery genauer hinsah, sah er, dass es die Gläser waren, aus denen Joe und das Mädchen getrunken hatten. Dabei hatte Joe eine Wasserflasche am Boden stehen, er hätte die Gläser jederzeit auffüllen können, aber es schien fast, als würde sein Lächeln bei jedem falschen Fis und Cis (oder was für Töne es auch immer waren) breiter werden.
    Nach Beendigung des Walzers holte Joe eine hölzerne Strauß-Marionette aus einem alten Lederkoffer, ließ ihre Beine an den Schnüren tanzen und über die Brücke laufen. Ein Bub kam vorbei, wollten stehen bleiben, doch die Mutter zerrte ihn mit angewidertem

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