Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)
in dieser Stadt erinnerte ihn an seine verstorbene Frau. Ein Tapetenwechsel sei das Beste, sagte er deswegen eines Abends zur Großmutter. Nicht nur für ihn, auch für das Kind. Vor allem für das Kind. In Wien könne man neu anfangen, und Laetitia sei ja noch klein, gerade einmal neun Jahre alt, sie würde mit der Zeit vergessen.
Die Großmutter flüsterte: »In Wien hast du niemanden. In Wien bist du ganz allein, und ein Kind braucht doch jemanden, der es lieb hat!«
Marie stand hinter der angelehnten Küchentür und verstand den Sinn der Sätze nicht.
Und jetzt gibt es nur noch mich, denkt sie. Jetzt muss ich mich nicht mehr um den Vater kümmern, jetzt ist er endlich dort, wo er immer sein wollte.
4 Seit Hedi Brunner das Essen auf Rädern bekommt, ist ihr Klo noch dreckiger als sonst. Dieses Essen muss einen weichen Stuhl machen, denkt Traude Stierschneider, woher sonst kämen die braunen Streifen auf dem Porzellan? Dass die Mutter die Tochter damit vertreiben möchte, darauf kommt die pflichtbewusste Traude nicht. Wer denkt auch an so etwas? Also rümpft sie die Nase, hält die Luft an und versprüht Fliederduft aus der Dose. Der Fliederduft erinnert Hedi Brunner an den Tag, an dem sie der fremden Agathe Stein ihren kleinen Wassily in die Arme gelegt hat. Kein Wunder also, dass sie Fliedergeruch hasst.
»Das stinkt, das Zeugs, das kannst gleich wieder mitnehmen«, ruft sie ihrer Tochter zu.
Traude, die nichts vom weggegebenen Halbbruder weiß, sprüht weiter und überlegt, was sie mit der Mutter machen soll, wenn sich der Alzheimer weiter im Mutterhirn ausbreitet. Zu sich nach Hause nehmen kann sie sie nicht, das würde Norbert nicht erlauben. Wo er die Mutter ohnehin nicht ausstehen kann. Daran ist die Mutter auch selbst schuld, nie hat sie ein nettes Wort für ihn gefunden, damals nicht und heute auch nicht. Immer muss sie betonen, wie gut Traude im Studium gewesen sei. Als ob das nicht Schnee von gestern wäre. Dabei hat Traude nicht Richterin, Traude hat Mutter sein wollen. Aber das wird ihre Mutter nie verstehen, wie auch, wo sie doch selbst nie gewusst hat, wie man eine Mutter ist. Traude hat den Fehler ihrer Mutter nicht wiederholt, sie ist da gewesen für den Buben, hat ihn umsorgt, ihn getröstet und sich mit ihm gefreut. Nicht wie die eigene Mutter, die an ihr und der Schwester immer etwas auszusetzen gehabt hat. Nie hat man es ihr recht machen können, und so ist es auch jetzt mit dem Klospray. Der Fliederduft stört die Mutter doch nur, weil er von ihr ist. Alles, was von ihr kommt, stört die Mutter. Nur Jakob hat sie akzeptiert. Aber das wäre ja noch schöner gewesen, wenn sie nicht einmal den Buben akzeptiert hätte, er kann schließlich nichts dafür, dass seine Großmutter mit seiner Mutter nicht zufrieden ist, dass sie sich so aufgeregt hat über die Schwangerschaft damals.
Vielleicht sollte ich eine Putzfrau engagieren, denkt Traude. Dann müsste ich nicht jede Woche das Mutterklo schrubben. Traude wünscht sich nichts sehnlicher als eine Putzfrau für die Mutter. Eine Putzfrau, eine Köchin und eine, die mit der Mutter spazieren geht. Aber sie könnte das nicht, die eigene Mutter so abschieben, ganz abgesehen vom Norbertgeld, das sie dafür ausgeben müsste. Also scheuert sie die vollgekackte Kloschüssel und sprüht fleißig Fliederduft, um ihre Magennerven zu beruhigen.
Wenn wenigstens die Anna ein wenig helfen würde, denkt sie. Immerhin bin ich nicht die einzige Tochter. Ein wenig könnte sie mir schon abnehmen, die Anna, wo sie doch jetzt zu Hause ist und vom Arbeitslosengeld lebt.
Was Traude Stierschneider nicht wissen kann, ist, dass Anna anderweitig beschäftigt ist. Anna Brunner bereitet dem Vergnügen, den Traude vernachlässigt. So ist das in einer guten Familie, da kümmert sich jeder um jeden.
Zweimal pro Woche kommt Norbert Stierschneider zu seiner Schwägerin in die kleine Wohnung mit der Duschkabine neben der Küchenzeile. Alles in allem dauert es nie lange, man plaudert ein wenig (»Wie geht’s?« – »Danke, gut« – »Wie geht’s der Traude so?« – »Ach, lass mich mit der in Ruh«), und schon wird aufgeknöpft und heruntergeschält. Das ist Annas Rache an der perfekten Schwester. Der alternde Professor schiebt sein Rohr volle Kraft voraus in den Annaabguss, und tatsächlich fließt es aus Anna heraus, rinnt ihre Schenkel hinunter und tropft aufs fleckige Linoleum. Norbert Stierschneider fährt mit der linken Hand darüber, während seine rechte die Hose
Weitere Kostenlose Bücher