Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)

Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)

Titel: Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margarita Kinstner
Vom Netzwerk:
»Aber die Schularbeiten«, wandte sie ein, doch der Klassenvorstand winkte ab, ein Monat sei nicht so lange, sie sei doch eine intelligente Schülerin, außerdem seien in einer Woche sowieso Osterferien, da würde sie nicht viel versäumen. Der Vater starrte auf sein Taschentuch und schwieg.
    Zu Hause setzte er sich aufs Sofa, zündete sich eine Zigarette an und sagte: »Dein Klassenvorstand hat recht, ich hab dir zu viel zugemutet.«
    Also packte Marie Schulbücher, Hefte und Gewand in eine Sporttasche und redete sich ein, zu verreisen. Danach schrieb sie der Großmutter einen Brief, in dem sie ihr erklärte, warum sie in den Osterferien nicht kommen würde.
    Als sie sich schließlich vor der Glastür des Krankenhauses vom Vater verabschiedete, fühlte sie sich zu ihrer eigenen Verwunderung um zehn Kilo leichter.

3  Walpurga Schindelböck hält das beigefarbene Handtäschchen fest umklammert und lässt die goldblonden Dauerwellen hüpfen. Sie habe, stottert sie und zeigt dabei zwei lange Schneidezähne, sie habe ja keine Ahnung gehabt, mit einer Gummipuppe, das gibt es doch nicht, er sei doch sonst immer ganz normal gewesen, ein einsamer Witwer eben, aber dass er seine verstorbene Frau in dieser Puppe gesehen habe, daran denke doch wirklich niemand. »Das ist, weil er immer so viel allein ist«, wirft sie ihren vorwurfsvollen Blick auf Marie.
    »Aber das stimmt doch gar nicht!«, mischt sich eine Frau mit mehlblassem Gesicht und Spargelhaaren ein. »Er hat doch mich!«
    Helga Deixelberger versteht die Welt nicht mehr. Ihr armer Hugo, warum hat er denn nichts gesagt, sie wäre doch sofort angerannt gekommen und hätte ihn gestreichelt. Helga kennt sich aus mit traurigen Männern, ihr Gustl ist auch immer so traurig gewesen, aber sie hat ihn gesund gepflegt, die Depressionen hat sie ihm weggelacht, ganz lustig ist er da geworden, doch dann hat er sich in seiner Lust eine andere genommen.
    Laetitia, die Fröhliche, Laetitia, die Tochter, will sich den Unsinn der beiden nicht länger anhören. Sie hat den Vater vorhin gesehen. »Papa!«, hat sie gerufen, doch Hugo hat mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht durch sie hindurchgeschaut.
    »Er glaubt, er ist in Palermo«, hat der dünne Pfleger mit dem Pferdeschwanz freundlich lächelnd gesagt. Der Psychiater hat seine Worte bestätigt, der Patient sei in eine Straßenbahn gelaufen, mit einer Gummipuppe im Arm, ein wenig wie Kokoschka, nur dass jener gewusst habe, dass es sich bei seiner Alma um Plüsch handelte. Passiert sei dem Vater dennoch nichts, zumindest was seinen Körper betraf, die Straßenbahn habe rechtzeitig bremsen können, der Fahrer habe die Polizei verständigt, die wiederum das Krankenhaus benachrichtigt habe. Der Mann sei eindeutig verwirrt, habe man noch vor Ort festgestellt, denn erst, nachdem Hugo Steinwedel versprochen worden war, ihn und seine Frau nach Palermo zu fahren, habe er sich mitnehmen lassen.
    »Ich glaub, er ist glücklich dort, wo er ist«, sagt Marie zu den beiden Frauen. »Das war es doch, was er immer wollte, oder etwa nicht?«
    Walpurga Schindelböck sieht ihre Nichte aus großen Augen an, und auch Helga Deixelberger verstummt. Marie lässt die beiden stehen, wendet sich der Glastür zu und geht hinaus in den orangegelben Nachmittag. »Laetitia!«, schreit ihr die Tante nach, doch Laetitia gibt es nicht mehr, Laetitia wird nicht mehr gebraucht. Der Vater hat zu der zurückgefunden, zu der es ihn immer gezogen hat, und Marie hat nun keine Eltern mehr.
    Im Stadtpark liegen Scherben von zerbrochenen Bierflaschen. Die Sonne schummelt sich durch goldglänzende Blätter und kitzelt Marie in der Nase. Am Ententeich sitzt eine junge Frau und liest in einem Buch, ihre Hand spielt mit einer Haarsträhne, dreht sie ein, wickelt sie um den Finger und lässt sie wieder frei.
    Vielleicht ist der Vater jetzt wirklich glücklich, denkt Marie.
    Sie versucht, sich an die Mutter zu erinnern, an ihr Haar, das bei jeder Umarmung in der Nase kitzelte, ein Kitzeln wie das der Herbstsonne.
    Eine Kastanie trifft sie am linken Schulterblatt. Als sie sich umdreht, sieht sie zwei Buben kichernd hinter einem Baumstamm verschwinden. Sie erinnert sich, wie sie als Kind die Großmutter mit einer Kastanie traf. Die Großmutter hatte sich gebückt und Marie traf sie mitten auf die Nase, woraufhin der Großmutter mächtige rote Blasen aus den Nasenlöchern wuchsen.
    Wenn sie nur nie nach Wien gezogen wären. Aber der Vater hielt es in Graz nicht mehr aus. Alles

Weitere Kostenlose Bücher