Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)
deine Zeit nicht mit einer alten Frau wie mir verplempern.«
Seitdem Gery nicht mehr schlafen kann, und das sind jetzt bald vier Monate, hat er viele kennengelernt. Die Bezeichnung Mädchen hat zu keiner von ihnen gepasst. Frauen, die mit ihm kamen, weil es ihnen ging wie ihm, die seine Wohnung noch vor dem Morgen wieder verließen, und an deren Namen er sich schon am Nachmittag nicht mehr erinnern konnte.
Vor zwei Wochen hat er es mit Schlaftabletten versucht. Das Resultat war, dass er zwanzig Minuten vor dem Weckerläuten eingeschlafen ist und den ganzen darauffolgenden Tag das Gefühl gehabt hat, demnächst auf dem Teppich eines Kunden zusammenzubrechen. Als dann ein paar Tage darauf der Typ mit dem Säckchen Kokain am Pokertisch aufgetaucht ist, hat Gery kurzerhand seinen Gewinn eingetauscht und beschlossen, in einem Monat wieder damit aufzuhören. Das Koks, das sich seitdem in seinem verklumpten Rotz verfängt, macht ihm Angst. Aber solange die Angst noch da ist, ist wenigstens noch nicht alles aus ihm ausgelaufen, was ihn am Leben hält.
Gery lehnt sich zurück und sieht auf die Uhr. Die Stunden nach den Essenauslieferungen sind die einzigen, in denen er ein wenig zur Ruhe kommt. Danach fährt er manchmal zu der alten Frau. Hedi Brunner ist die vierte auf dem Lieferplan. Vor sechs Wochen ist er das erste Mal außerhalb der Lieferzeiten vor ihrer Tür gestanden. Bei ihr kommen seine Gedanken zur Ruhe. Während sie in ihrem Schaukelstuhl sitzt, lehnt er sich gegen die geblümten Polster ihres Sofas und schluckt Kuchen und Kaffee hinunter. Die alte Frau mit den Porzellanfigürchen und den alten Fotos im Glasschrank macht ihn auf eine sonderbare Weise glücklich. Wenn er ihr zuhört, ziehen schwarz-weiße Bilder vor seinen Augen vorbei, dann muss er innerlich lachen, weil er sich nicht erklären kann, warum er sich ihre Vergangenheit immer als farblosen Film vorstellt. Er würde so gerne einen Film über sie drehen. Aber als er ihr von seiner Idee erzählt, schüttelt sie nur den Kopf. »Was willst denn über mich schon erzählen?«
Gegen acht Uhr fährt er mit der Straßenbahn von Hedis Wohnung zum Gürtel und mit der U6 in den fünfzehnten Bezirk. Klappert alle Lokale ab, in denen er mit Joe gewesen ist. Manchmal legt er sich danach noch ein wenig aufs Bett, meist, wenn ihm das Geld ausgegangen ist. Aus Vorsicht geht er ohne Bankomatkarte, mit höchstens fünfzig Euro Bargeld außer Haus. Manchmal reicht das Geld, bis es draußen hell wird, dann geht er direkt vom letzten Lokal zur Zentrale und setzt sich neben den Fahrer in den Lieferwagen.
Gestern ist ihm das Geld schon kurz nach Mitternacht ausgegangen. Er ist allein nach Hause gegangen, hat eine halbe Stunde versucht, einzuschlafen, und gehofft, es würde leichter gehen, nachdem er sich einen runtergeholt hat. Als auch das nicht geklappt hat, hat er sich bei einer Partnervermittlungsseite registriert und wahllos zehn Frauen angeschrieben. Sonja mit den weit aufgerissenen Kuhaugen ist die einzige, die ihm geantwortet hat, deswegen schreibt er ihr jetzt zurück. Danach lässt er den Oberkörper zur Seite kippen, legt die Füße hoch und denkt an Marie. Immer wieder hört er ihr leises Glucksen am Tag von Joes Beerdigung. Als er sich danach umgedreht hat, hat er sie gerade noch hinter eine Hecke springen sehen. Seitdem begegnet er ihr in den Stunden zwischen zwei und drei Uhr nachmittags, wenn er sich mit brennenden Augen aufs Sofa fallen lässt. Dann erscheint sie ihm als flackerndes Bild, ein Lachen trennt die obere von der unteren Hälfte ihres Gesichts und saugt sich an der Innenseite seiner Lider fest.
Darf man sich die große Liebe des verstorbenen Freundes (»meine zweite Apfelhälfte«, wie Joe sie immer genannt hat) in seine Träume hineindenken? Wie oft hat Gery sie gesehen? Fünf Mal? Sechs Mal?
Marie, kleine Laetitia Marie, mit dem zarten Körper und den ernsten Augen über dem stetigen Lächeln. Manchmal hätte er ihr gerne über die Wange gestreichelt. Hat sich zurückhalten müssen, nicht den Arm nach ihr auszustrecken und die Handfläche auf ihre Haut zu legen.
Gery vergräbt den Kopf in den Polster. Formt einen Federwulst im Nacken, um die Kopfschmerzen zu verjagen. Ein wenig Schlaf nur. Mit Maries Bild hinter den geschlossenen Lidern einschlafen. Zusehen, wie sie auf die Rossauer Brücke gelaufen kommt, Joe umarmt und ihn, Gery, ansieht, ihm die Hand entgegenstreckt, höflich, scheu. Dann sagt: »Kommt, ich zeig euch was!«
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