Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)
hinaufschiebt. Danach trinken sie noch ein Glas Wein, viel zu sagen haben sie einander ohnehin nicht, und das ist Anna auch recht so. Gefühlsduseleien hat sie noch nie leiden können. Da hat sie es lieber, wenn gar nicht geredet wird. Die Männer sind immer gekommen und gegangen, hinein in ihr Leben und aus ihrem Leben heraus, und eigentlich war ihr das auch recht so. Wenn ihr sonst schon nichts vergönnt gewesen ist, wenigstens das hat sie sich selbst gegönnt. In einem Alter, in dem andere erst aufgewacht sind, hat sie bereits ein Kind gehabt, und danach ist sie verwelkt gewesen und hat mit den Männern nichts mehr anzufangen gewusst. Alle haben sie eine Vergangenheit gehabt, alle haben sie über ihr Leben gejammert. Da hat sie sich lieber die Verheirateten in die Wohnung geholt, die haben keine großen Ansprüche gestellt, die sie ohnehin nicht hätte erfüllen können. Denn das Lieben, das hat Anna nie gelernt.
Vor einem halben Jahr, als schon länger keiner mehr zu Besuch gekommen war, ist sie schließlich Norbert begegnet. Gerade frisch vom Frisör, mit der neuen Mèche, ist Anna ums Eck und fast in Norbert hinein, der an einem Brötchenstand ein Thunfischsandwich gekaut hat. Da schau her, hat sie sich gedacht, so einen Hunger hat der, wenn das die Traude wüsst!
Sie haben sich unterhalten, und bald schon hat eines zum anderen geführt. Seitdem kommt er regelmäßig zu ihr. Jetzt, da es nichts mehr hineinzupflanzen gibt in jugendliche Köpfe, weiß er nichts mehr anzufangen mit seiner Zeit, wird ihm öfter langweilig. Und wenn einer das Hineinpflanzen einmal gewohnt ist, kann er so schnell nicht davon lassen. Also pflanzt Norbert Stierschneider neuerdings etwas anderes hinein, und zwar in Anna.
Ein Lächeln huscht über Annas Gesicht. Was die Traude jetzt wohl macht?
In letzter Zeit ruft sie wieder öfter an. Als ob das immer so gewesen wäre, als ob sie sich die letzten Jahrzehnte für die Schwester interessiert hätte. Der Mutter gehe es nicht gut, jammert Traude, Alzheimer habe sie, die ganze Kloschüssel sei verdreckt, und umgefallen sei sie auch, man könne nie wissen, ob sie nicht wieder gestürzt sei, gerade hilflos in der Wohnung liege, am Ende gar schon tot sei. Und Anna könne sich doch auch einmal um sie kümmern, sie hätte doch auch Tochterpflichten, sie, Traude, könne doch nicht alles allein machen, und überhaupt, wo doch die Mutter so viel getan habe für Anna und das Kind damals, ob sie das denn schon vergessen habe.
Daran denkt Anna, während Norbert über ihren Schenkel streicht und stolz den Männlichkeitsbeweis ertastet. Erst vor drei Tagen hat Traude wieder angerufen, als ob sie etwas ahnen würde, als ob es gar nicht um die Mutter ginge.
»Wenn du mich brauchst, um die Mama entmündigen zu lassen, dann sag’s gleich«, hat Anna gesagt. »Aber ihr Klo putz ich nicht!« Dann hat sie mitten im Traudeschwall aus Vorwürfen den Hörer auf die Gabel gelegt und die Schwester allein gelassen am anderen Ende der Festnetzleitung. Allein mit dem Mutterklo und allein mit dem Essen, zu dem der Norbert wieder zu spät gekommen ist.
Als ob die Mutter jemals für mich da gewesen wäre, denkt Anna weiter, nachdem Norbert gegangen ist. Sie sitzt am Sofa gegenüber vom Herd und schenkt sich den Rest vom Rotwein ein. Der Mutter bin ich doch immer zu dumm gewesen. Blöde Anna. Wenn ich wenigstens nur halb so klug gewesen wäre wie die Traude. Aber die hat sich in ihrer Klugheit dann auch ein Kind in den Bauch pflanzen lassen, und das knapp vor dem Diplom. Das hat der Mutter damals den Rest gegeben, wo sie doch die Traude schon als Richterin gesehen hat. »Ohne fertiges Studium bist ein Leben lang von einem Mann abhängig«, hat sie gewettert.
Aber für mich hätte sie sich schon so einen zukünftigen Professor wie den Norbert gewünscht, denkt Anna, wie ich so allein dagestanden bin mit dem Kind und ohne Schulabschluss. Und das, als der Vater endlich tot gewesen ist und wir Kinder mehr oder weniger erwachsen waren, als die Mutter endlich für sich hätte leben können.
Wann, bitteschön, fährt Anna mit dem Zeigefinger über den Glasrand, ist die Mutter schon da gewesen für mich? Die hat doch nie etwas mit mir anfangen können. Mit mir nicht, und auch mit der Traude nicht. Nur die Vera hat sie ein bisserl gern gehabt. Das hat Anna vor drei Tagen auch zu ihrer Schwester gesagt. »Nur die Vera hat sie ein bisserl gern gehabt.« Doch Traude hat nicht hingehört. Traude ist eben immer schon anders
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