Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)
wer steht da? Niemand anders als Sofia selbst, das Original, die Honigundmandelsofia, gerade einmal siebzehn Jahre alt.
»Komm!«, sagt sie und nimmt ihn bei der Hand.
2 Wenn ein sechzehnjähriges Mädchen mit blassem Gesicht und Untergewicht dreimal binnen zwei Wochen in Ohnmacht fällt, muss man als Lehrer handeln. Man ruft die Rettung, die Schülerin wird durchgecheckt, im Idealfall findet man eine Ursache, die durch Kochsalzlösungen und Kreislauftropfen bekämpft werden kann. Im schlimmeren Fall findet man Lymphknötchen, die auf die Lunge drücken. In Maries Fall fanden die Ärzte nichts. Eine Assistenzärztin tippte auf Magersucht, doch obwohl Marie eindeutig zu dünn war, aß sie im Spital mit großem Appetit. Die Untersuchungen dauerten drei Tage, danach schickte man sie wieder nach Hause.
Eine Woche später fiel sie abermals um. Hugo Steinwedel holte seine Tochter mit ratlosem Gesicht ab. Zu Hause steckte er sie ins Bett und stellte Teewasser auf, weil er nicht wusste, was er sonst hätte tun können. Er nahm sich Pflegeurlaub und umsorgte seine Tochter liebevoll, ließ die Tür zwischen Wohnzimmer und Kinderzimmer angelehnt und horchte angespannt, wenn Marie zu lange auf der Toilette blieb.
Marie schlief viel, stand nur auf, wenn der Vater ihr Suppe und belegte Brote brachte oder wenn sie auf die Toilette musste. Als sie nach einer Woche wieder zur Schule ging, schien alles in Ordnung zu sein, und Hugo atmete erleichtert auf. Teenagermädchen fallen nun einmal öfter um, das kannte er als Lehrer am Gymnasium nur allzu gut, da musste man sich nicht gleich Sorgen machen.
Zwei Wochen später erhielt er einen Anruf vom Klassenvorstand. Da hatte Marie bereits vier Sitzungen mit der Schulpsychologin hinter sich.
Die Psychologin behandelte Marie wie ein kleines Kind, befragte sie mit sanfter Stimme über den Tod der Mutter, strich ihr über den Arm und sagte Sätze wie: »Du musst ganz schön traurig gewesen sein.« Marie kam sich vor wie ein vierjähriges Mädchen, dem man die Puppe gestohlen hatte. Sie mochte die Psychologin nicht, doch war sie es gewohnt, höflich zu antworten, wenn man ihr Fragen stellte, also sagte sie, dass nicht sie es sei, die unter dem Tod der Mutter leide, sondern der Vater. Dass er bis vor kurzem zu ihr ins Bett gestiegen und sich wie ein kleines Kind hatte umarmen lassen, erwähnte sie sicherheitshalber nicht. Aber dass er traurig war, dass er ihr leid tat, dass sie manchmal nicht mehr wisse, was sie noch tun sollte, das konnte sie ruhig zugeben. Und wer weiß, dachte Marie, vielleicht kann die Psychologin mir ja einen Rat geben, immerhin hat sie gelernt, wie man mit traurigen Menschen umgeht.
Bei der dritten Sitzung tauschte die Schulpsychologin die zuckersüße Stimme gegen die einer erwachsenen Frau ein, hörte Marie mit besorgter Miene zu, nickte mit dem Kopf, stellte Fragen und schrieb Notizen auf einen Block, die Marie nicht entziffern konnte. Marie fing an, sich beobachtet zu fühlen. Als sähen alle Lehrer und Mitschüler nur noch auf sie. Also versuchte sie, so unbeschwert wie möglich zu wirken. Trug sich in den Pausen ein Lächeln mit Lipgloss auf und tat so, als ginge es ihr gut. Nur nicht auffallen, sagte sie sich, wenn sie das Klassenzimmer betrat.
Vielleicht fiel sie gerade deswegen auf. Vielleicht lag es aber auch daran, dass, wenn die Mühlen einer Schule einmal in Gang gesetzt worden sind, es kein Zurück mehr gibt. Der Klassenvorstand hatte die Psychologin eingeschaltet, jetzt blieb ihnen nichts anderes übrig, als den Weg zu Ende zu gehen.
Als Marie das kleine Teezimmer, in dem sie sich üblicherweise mit der Schulpsychologin traf, betrat, stellte sie erstaunt fest, dass sowohl der Klassenvorstand und die Direktorin als auch ihr Vater anwesend waren. Letzterer saß mit gesenktem Kopf auf dem Besuchersessel und fuhr sich abwechselnd mit der Hand über die Augen und seinen Dreitagebart. Marie lächelte ihr Lächeln und setzte sich auf den leeren Stuhl. Stellte sich vor, wie es wäre, das zwinkernde Auge der Schulpsychologin mit den Stecknadeln, die in einer Korkwand hinter dem Direktorinnenkopf steckten, zu durchbohren.
Es war der Klassenvorstand, der ihr schließlich den Vorschlag unterbreitete. Sie solle ein wenig zur Ruhe kommen, die Chance haben, alles zu verarbeiten. Mit
alles
meinte die Lehrkraft den Selbstmord der Mutter, der zu diesem Zeitpunkt bereits sieben Jahre zurücklag. Marie saß stumm neben dem Vater und sah hilfesuchend zu ihm auf.
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