Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)
voraus, ans andere Ende der Brücke, um die U4-Station herum und auf den Siemens-Nixdorf-Steg. Es ist Nacht und die Flutlichter strahlen auf den Fahrradweg. Marie setzt sich auf den noch warmen Asphalt. Zeigt dann auf die Netze zwischen den Eisenstreben. »Sind die nicht ekelig?«
Gery steht ganz dicht hinter ihr. Als sich die Spinne bewegt, kann er sehen, wie sich die feinen Härchen in Maries Nacken aufstellen.
»Sie spannen ihre Netze untertags hier auf. Genau im richtigen Abstand. Ganz so, als wüssten sie schon am Nachmittag, wohin die Lichter am Abend strahlen werden.«
Nie hat Gery jemanden gesehen, der so fasziniert vor einem Spinnennetz gesessen ist. Er ist so versunken in die zarten Bewegungen ihrer Nackenhaare, dass er gar nicht bemerkt, wie Joe auf das Spinnennetz zugeht und es mit dem Zeigefinger berührt.
»Nicht kaputt machen! Dafür hat sie den ganzen Tag gebraucht.« Es ist ein beinahe ehrfurchtsvolles Flüstern, das von Maries Lippen kommt.
Joe zieht den Zeigefinger zurück, und die Spinne beginnt, wie verrückt in die Mitte des Netzes zu krabbeln, doch da ist Marie schon aufgesprungen und läuft die engen Wendeltreppen zum Ufer hinunter, wo sie sich ins Gras fallen lässt und eine der Oliven, die Joe in einer kleinen Dose bei sich trägt, in den Mund steckt. Sie lutscht so lange daran, bis nur noch der Kern übrig ist, dann zieht sie Joes Kopf an den Haaren zu sich, schiebt ihm ihre Zunge mitsamt dem Olivenkern in die Mundhöhle und wischt sich kichernd über die Lippen.
»Wieso regt es dich so auf, wenn jemand ein Spinnennetz zerstört, wo du die Viecher doch so hasst?«, fragt Gery, als Marie Joe wieder loslässt und sich eine neue Olive in den Mund schiebt. Und sie antwortet ganz ernst: »Was kann denn die arme Spinne für meine Phobie?«
In der Ecke des Zimmers tickt die Uhr ungewöhnlich laut. Den Arm um den Polster gelegt, wartet Gery auf den Schlaf. In seinem Brustkorb hämmert es von den Zigaretten und dem Koks. Er fragt sich, wie lange ein Körper so etwas aushält. Eines Tages werde ich in der Altbauwohnung eines unserer Kunden zusammenbrechen und unter einer Ladung von Saftfleisch mit Erbsenreis mein Leben aushauchen, denkt er. Vielleicht wäre das nicht einmal der schlechteste Tod.
6 Der Vater riecht nicht mehr nach kaltem Rauch und Schlosskäse, sondern nach Seife und frischer Wäsche. Marie mag es, ihn dabei zu beobachten, wie er lächelnd aus dem Fenster sieht, ganz so, als sehe er dahinter etwas, das ihren Augen verborgen bleibt. Man hat seinen Sessel vor das Fenster geschoben und lässt ihn sein, wie er ist. Die täglichen Tabletten tun das Übrige. Die Hände des Vaters sind warm, ganz und gar nicht feuchtkalt, wie man sich das vielleicht vorstellen mag.
In den Gemäuern der Sigmund-Freud-Klinik herrscht eine Stille, die es sonst nicht gibt auf dieser Welt. Hier herein dringt keine Hektik, nicht, wenn man zu den Patienten gehört, und schon gar nicht, wenn man zu jenen gehört, denen ohnehin nicht zu helfen ist. Und zu denen gehört Hugo Steinwedel, zumindest nach Ansicht der Ärzte und Pfleger, deswegen hat man ihn auch vor das Fenster geschoben. Wie soll man einem schon helfen, der sich nicht mehr rührt, der zwar isst und trinkt, der sich sogar führen lässt, vom Bett zum Fenster, vom Fenster zum Tisch, wo das Essen steht, vom Tisch wieder zurück zum Fenster, aber sonst keinerlei Reaktion zeigt? Also stellt man ihn ab, wie den Staubsauger oder den Wagen mit der Bettwäsche. Der Psychiater steht vor einem Rätsel, doch für Rätsel hat man hier keine Zeit. »Lasst ihn einfach in Ruhe, er schaut doch ganz glücklich aus«, sagt er und geht zum nächsten Patienten.
Pfleger Hans, ein schlaksiger junger Mann mit Pferdeschwanz und einer solchen Ruhe, dass die Schwestern davon ganz unruhig werden, gibt dem Psychiater recht. »Der Hugo ist in Palermo, dem geht’s besser als uns allen«, wird er nicht müde zu behaupten. Ein Satz, der, an der Kaffeemaschine weitergegeben, die zum Lachen bringt, die sonst nicht viel zu lachen haben. Wie Schwester Sylvia zum Beispiel. Die Arbeit in der Klinik ist der angenehmere Teil in ihrem Leben, die Patienten weniger Sorgenkinder als ihre eigenen drei.
Sylvia ist diejenige, die Hugo den Löffel in die Hand drückt und sich neben ihn setzt, um das Mittagessen zu überwachen. Manchmal muss sie ihn ein wenig am Oberarm stupsen, damit er weiterisst, doch nur selten ist sein Teller am Ende nicht leer.
»Na, was gibt es denn heute? Piccata
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