Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)
zieht den Lidstrich neu, tuscht sich die Wimpern und fährt mit dem Konturenstift die Lippenränder entlang. Danach begutachtet sie ihre Haare. Einzeln hebt sie Strähne für Strähne hoch und hält sie gegen den Spot am Badezimmerspiegel. Erst gestern hat sie ein paar weiße Haare entdeckt, da ist sie gleich in die Drogerie gelaufen, um sich Farbe zu besorgen. Es lebe Natriumhydroxyd, es lebe Wasserstoffperoxyd! Jetzt leuchten ihre Haare rötlich. Wenn das noch lange so weitergeht, bin ich bald weiß und runzlig, denkt Sonja. »Schau, dass du nicht übrig bleibst«, hat ihr Vater erst vor einer Woche zu ihr gesagt. Und: »I hab eh erst neulich zur Mama g’sagt, dass das mit dem Enkerl wohl nix mehr wird.«
Sonja grimassiert vor dem Spiegel. Alt wirst sein. Alt, hässlich und allein. Sie streckt die Zunge heraus. Dann sprüht sie sich Parfüm ins Haar und stellt sich vor den Kleiderschrank.
Eine knappe Stunde später schlendert Gery die Stufen der U4-Station Ober St. Veit hinunter. Er erkennt Sonja sofort. Sie sieht sexy aus in den violetten Strümpfen, dem kurzen Rock und der tailliert geschnittenen Lederjacke. In Gedanken nimmt er die Objektivklappe ab und stellt die Brennweite ein. Diese Strümpfe will er heute noch zerreißen. Mit seinem Zeigefinger wird er ein Loch in den dünnen Nylonstoff bohren und dabei zusehen, wie ihr die Leitern über die Beine klettern.
Sie stellen einander vor, küssen sich auf die Wangen und gehen die Stufen hinauf. »Grauslich ist es heute«, sagt Sonja und spannt den Schirm auf. Gery schlägt vor, ins nächste Kaffeehaus zu gehen, er kenne eines gleich ums Eck, und Sonja nickt, hält den Schirm hoch und lässt sich die Gasse hinaufführen, mit leichtem Druck gegen den Oberarm nach links dirigieren. An der Ecke stoßen sie fast mit einer Frau zusammen, mausgrauer Zopf, orange Fleeceweste, schwarz-weiß gepunkteter Rock. Pinkfarbene Socken und Korksandalen. In der Hand hält sie einen grauen Leinensack, oben schauen Flaschenhälse heraus.
»Dass der nicht kalt ist im Regen«, sagt Sonja und zieht die Nase hoch, nur auf einer Seite, sodass ihr Gesicht etwas Schiefes bekommt.
Gery dirigiert sie am Ellbogen, umrundet sie, hält die Tür zu einem kleinen Kaffeehaus auf. Sonja starrt auf das Riesengemälde, das man hier an die Wand gepinselt hat: ein Mann auf einer Leiter, gegen eine Laterne gelehnt, eine Frau vor einer Staffelei, ein Mopedfahrer, eine Spaziergängerin mit Hund. Davor Tische mit abgeschlagenen Marmorplatten. Sonjas Stiefel tackern auf dem Kopfsteinpflaster, das man anstelle eines Fliesenbodens verlegt hat. Ein Stuhlbein bleibt in einer Rille stecken, Sonja gerät ins Wanken, steht auf, adjustiert den Stuhl neu, jedes der vier Beine auf einen Pflasterstein.
»Ist das nicht seltsam, dass wir jetzt hier sind?«, fragt Gery.
»Was soll daran seltsam sein, wir haben uns dieses Treffen doch ausgemacht«, sagt Sonja. Ihr Gesicht ist eine starre Maske, nur die hohe Stirn legt sich in Falten vor Konzentration, nicht umzukippen.
Gery erzählt von Hedi. »Vielleicht mein nächstes Filmprojekt«, sagt er und: »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie interessant das ist, wenn sie erzählt, von früher, der Nachkriegszeit und der Zeit danach. Weißt du, sie hat eigentlich nie Kinder haben wollen.«
»Ich wünsche mir schon Kinder.«
Sonja wippt mit der Stiefelspitze. Überhaupt wippt sie ständig, ganz nervös macht sie ihn mit ihrem Wippen, das beginnt bei der Stiefelspitze und pflanzt sich fort, auf ihre Unterschenkel, ihre Oberschenkel, den Rumpf. Gery würde gerne wissen, was sie denkt, bestimmt ist sie auf der Suche nach einem, mit dem sie ihre Kinder großziehen kann, denkt er, so wie alle Frauen auf der Suche nach einem potentiellen Vater sind, sobald sie dreißig werden. Er stößt mit seinem Knie gegen das ihre und zieht es wieder zurück. Sonjas Wippen steht still, verharrt in der Luft, die Stiefelspitze hochgehoben, Zeitausfall, drei Sekunden lang, dann setzt es sich wieder in Bewegung, als wäre nichts geschehen, als hätte es die Berührung nie gegeben.
Kälte geht von ihr aus, Sibirien, arktisches Eis, nur ganz tief in ihr zittert es, ist alles heiß, brodelt. Und er wird die Bohrung vornehmen, wird mit seinem Gerät tief in sie eindringen und mit einem langen Sonjazapfen wieder auftauchen. Davor wird er sie in seine Wohnung führen, einen Film ansehen,
Das große Fressen
, wird sie mit Käse, Kapern und Weintrauben füttern, die er vorhin eingekauft hat.
Er
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