Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)
entstammend, die sich noch an die Glanzzeiten des Kasperls erinnert, nimmt Max die Puppe aus der Hand und schenkt ihr ein liebevolles Lächeln.
»Alles lässt sich machen, mein Lieber. Und unser Freund hier darf endlich wieder der sein, der er immer war.«
Und so legt sich, während Gerd und sein jugendlicher Harlekin die Kulissen aufbauen und Pavel Palicini gleich ums Eck mit dem Betreiber der Ersten Wiener Hochschaubahn verhandelt, ein seltsames Gerücht über die Hochschaubahnen, fliegenden Sessel und Autodrome. Leise wispert es zwischen dem lauten Gedröhne der Stahlkonstruktionen und durchflitzt Imbissstuben und Labyrinthe, wo es sich in den konvexen und konkaven Wölbungen der Spiegel verirrt.
Nur Marie und Gery, deren Existenz die ganze Aufregung überhaupt erst ausgelöst hat, ahnen nichts von Palicinis eifrigem Treiben. Sie schlendern durch die kalten Gassen und halten ihre Köpfe gesenkt, Gery auf dem Weg zur Schmelzbrücke, Marie auf dem Weg nach Hause nach einem langen Tag voll Unterrichtsstunden und Fördereinheiten.
Der Wind pfeift und bläst um jede Ecke, peitscht Sonja den Pferdeschwanz ins Gesicht, fährt Willibald Blasbichler unter den Mantel und weht Norbert Stierschneider das Toupet vom Kopf, sodass es ganz schief sitzt, als er bei seiner Schwägerin Anna an der Wohnungstür läutet.
Und so vergehen die letzten Winterwochen. Das Leben geht weiter, nur auf der Schmelzbrücke bleibt es ein wenig zu still, verkürzt niemand die trüben Tage mit Weingläsern und Marionetten. Mit traurigen Blicken sehen die Kinder der Umgebung von Rudolfsheim nach Fünfhaus und erinnern sich an den Vogel Strauß, der vor gar nicht allzu langer Zeit noch hier getanzt hat. Doch Kinder vergessen schnell. Nur der alte Muzaffer wickelt sich den Mantel enger um den Körper. Manchmal, wenn er über die Brücke geht, sieht er Joes Freund dort stehen. Dann stellt er sich neben ihn, legt ihm kurz die Hand auf die Schulter und geht wieder weiter. Der arme Junge, denkt er dann immer, Menschen, die sich das Leben nehmen, wissen nicht, was sie anderen damit antun. Als Kosovo-Albaner kennt sich Muzaffer aus mit dem Tod. Was er jedoch nicht wissen kann, ist, dass Gery Joes Selbstmord gespeichert hat. Was hat es zu bedeuten, dass sich Joe ausgerechnet vor den Augen seiner Kamera in den Tod gestürzt hat? Verlangt er tatsächlich von ihm, dass er der Welt Joes Tod vor Augen führt? Als grandioses Finale?
So fängt Gery schließlich an, das Material der letzten Jahre zu schneiden. Joes Leben zwischen den Brücken und Lokalen, Joes Marionetten und Weingläser, Joes baumelnde Beine über der Westbahn. Ganze Nachmittage sitzt er vor dem Computer, kopiert und schneidet, Szene für Szene, Gespräch für Gespräch. Aber wie Joes Abwesenheit filmen? Wie die leere Stelle dokumentieren, die Joe hinterlassen hat? Also pendelt er zwischen den Brücken und hält die Kamera auf verwaiste Geländer und Fahrbahnen gerichtet. Es sind Momentaufnahmen seiner unaussprechlichen Einsamkeit. Danach packt er alles wieder in die Tasche, holt Papers, Tabak und ein kleines Döschen hervor, bröselt, wuzelt, leckt und inhaliert dann in langen tiefen Zügen. Danach geht er zu Fuß nach Hause, legt sich neben Sonja und bettet seinen Kopf in ihren Schoß.
Sonja hat schon auf ihn gewartet. Was bleibt, wenn Träume wie Seifenblasen zerplatzen? Ein voll gefüllter Aschenbecher am Bettrand und eine offene Rotweinflasche am Nachtkästchen, saurer Geruch nach Wein und Nachtschweiß in der Luft.
Am Morgen befreit sie sich aus Gerys Armen. Auf der Klomuschel sitzend lehnt sie den Kopf gegen die kühle Wand. Dahinter hört sie das Lachen der Nachbarn. Auf der Klotür klebt das Manifest für eine Gesellschaft ohne Geld, daneben die Köpfe von Che und Marx. Am Boden eine alte Ausgabe des Obdachlosenmagazins
Augustin
, im Eck ein zerfleddertes Buch von Kundera, dazwischen ein blau-weißes Päckchen o.b. – stummer Zeuge weiblicher Existenz inmitten der Anarchie.
Arme Sonja. Da sitzt sie nun auf der hölzernen Klobrille und weiß nicht mehr, wer sie eigentlich ist. Warum stört sie Gerys Dreck nicht? Weil sie weiß, dass sie ihm seinen Dreck nicht abgewöhnen muss, weil sie sich ja doch keine Zukunft mit ihm vorstellen kann? Aber wenn sie sich keine Zukunft mit ihm vorstellen kann (und das war doch immer so wichtig für sie), was empfindet sie dann, wenn er sie umklammert, den Arm unter ihrem Kopf hindurchschiebt und sich an sie schmiegt, sein Atem ein wenig wie der des
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