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Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)

Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)

Titel: Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margarita Kinstner
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Aschenbechers am Bettrand? Warum ist sie trotz allem so gerne bei ihm, warum ist ihr seine Wohnung wie eine Auszeit, eine kleine Pause vom sauberen Leben, das sie immer so gerne geführt hat – von den steif gebügelten Blusen und Röcken, in die sie sich jeden Tag zwängt, von den Guten-Morgen-Grüßen, die ihr gegen die Schläfen hämmern, Schalen aus Anstand und Höflichkeit, dünn und zerbrechlich. Wehe dem, der das Ei fallen lässt, dann fließt alles heraus, der ganze Unrat, die ganze Mieselsüchtigkeit. Man sieht es den Kollegen und Kolleginnen an, hinter dem Schreibtisch, im Lift und an der Kaffeemaschine. Zwischen den verkabelten Monitoren der Versicherungsmathematik ist niemand glücklich. Kommen Sie zu uns, machen Sie uns Ihre Sorgen zum Geschenk, denn die möchten wir haben, lieber als unsere eigenen.
    Hat sie sich wirklich so sehr verändert?
    Dabei hat sie so lange studiert für einen Beruf samt Überstunden und Aufstiegschancen. Die Leiter zum Erfolg steht für sie bereit, die Sprossen führen nach oben, zu Ruhm und Geld und noch mehr Überstunden. Mit ihrem Röckchen durfte sie hinauf, ein Röckchen zwischen Hosenträgern, darauf sollte sie doch eigentlich stolz sein! Und es war ja auch schon alles geplant, bald hätten Jakob und sie einen Kredit finanzieren können, dann hätten sie eine Wohnung gekauft, achtzig Quadratmeter, mitten in der grünen Peripherie am Fuße des Schafbergs. Sie hat sich schon mit dem Kinderwagen die Ladenburghöhe hinaufgehen gesehen, dorthin, wo im Herbst immer die Kastanien liegen, hinüber zum Pötzleinsdorfer Schlosspark, wo die Eichkätzchen von den Bäumen huschen und sich die mitgebrachten Nüsse aus den Handflächen schnappen.
    Was ist aus ihrer Liebe zu Jakob geworden? Jetzt, da sein Gesicht aus ihrem Blickfeld gerückt und seine Worte verhallt sind, was bleibt davon noch übrig?
    Sonja betätigt die Spülung und tapst ins Badezimmer.
    Hinter den Mauern wird es Frühling. Schwarze Vögel satteln ihre Rucksäcke und fliegen gen Norden. Bald wird die Sonne auch die letzten Reste der Melancholie vertreiben und einem Gefühl der Hoffnung Platz machen. Aufatmend schieben die Wiener die dicht gewebten Vorhänge zurück.

4  Es war an einem Frühlingstag wie diesem und auf den Bäumen des Krankenhausareals marschierten Feuerwanzen auf.
    »Schusterkäfer«, sagte Marie, die sich plötzlich wieder erinnern konnte, wie der Vater sie immer genannt hatte.
    Sie breitete ihre Jacke aus und setzte sich neben den Jungen. Seine braunen Augen krochen unter dem dunkelblonden Haar hervor, so, als machten sie sich auf den Weg, vielleicht zu ihr. Sahen ihr dabei zu, wie sie in ihre Tasche griff und wühlte. Wie sie schließlich die letzte Marille herausfischte und sie am Pulloverärmel abwischte. Auch diese würde hart sein, wie die anderen es gewesen waren, und nicht nach Marille schmecken. Trotzdem reichte sie sie dem Jungen.
    Der Junge sah den Käfern zu und biss in die Frucht.
    »Danke«, sagte er.
    Marie sah ihn an. Hatte ihre Zimmernachbarin sie etwa angelogen, als sie ihr erzählt hatte, der Junge würde nicht sprechen?
    »Man erzählt sich, dass du dich weigerst, mit anderen zu reden«, sagte Marie.
    Der Junge grinste sie an. Zeigte dabei seine zwei Schneidezähne und den kleinen Spalt dazwischen. »Wieso? Ich rede doch mit dir!«
    Marie steht in der Küche, legt eine Kapsel in die Nespressomaschine. Es ist kurz nach Mitternacht. Jakob schläft schon, nur sie kann nicht einschlafen, denkt schon wieder an Joe. Den dreizehnjährigen Jungen im Gras, von dem es geheißen hatte, dass er nicht spricht, und der dann doch mit ihr gesprochen hat.
    Ein paar Tage, nachdem sie ihm die Marille geschenkt hatte, verriet er ihr, dass er alle zum Narren hielt. Dass er ein Spiel spielte, weil er sich nicht gefallen lassen wolle, dass alle zu wissen glaubten, was mit ihm los sei. Damals war er erst dreizehn.
    Ach, Joe.
    Erinnerungen sind eine dumme Sache. Immer wieder rotzen sie Vergangenes hoch, wie ein Kettenraucher am Morgen den Schleim, der sich tags zuvor in seinen Lungen festgesetzt hat. Gelblich-grauer Schleim, zähflüssig nach oben gehustet.
    Wie er gelacht hat, als er ihr seine Zeichnungen hinhielt. Joe konnte gut zeichnen. Die Bilder zeigten allesamt Primarius Würfler. Den Doktorkittel aufgeknöpft, mit hängender Zunge und hängendem Geschlecht. Nicht einmal die Männlichkeit hat Joe ihm gelassen, klein und verschrumpelt hing der Doktorschwanz zwischen den Kittelfalten und brachte

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