Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)
sie anders aus als damals? Sie holt den Föhn heraus und schließt die Badezimmertür, um Jakob nicht zu wecken. Als sie sich schlafen legt, ist es halb drei. Jakobs Schnarchen folgt einem geheimen Muster. Würde man es mittels eines Detektors aufzeichnen, könnte man es auf Overheadfolien ausdrucken, eine Folie für jede Nacht, und würde man sie aufeinander legen, so wären die Kurven vielleicht deckungsgleich.
5 Am Dienstag, dem vierundzwanzigsten Februar verweigert Hugo Steinwedel das Mittag- und Abendessen. Als am Tag darauf seine Atmung aussetzt, befinden sich sofort drei Schwestern sowie zwei Ärzte an seinem Bett. Nach der erfolgreichen Wiederbelebung fällt er endgültig in einen Zustand, den man in der Medizin als Apallisches Syndrom bezeichnet. Hugo Steinwedel wird ins Landeskrankenhaus überführt, wo seine Körperfunktionen per Monitor überwacht werden. Drei Tage lang sitzt Marie an seinem Bett, von dem aus man nicht mehr in einen Garten, sondern auf eine weiß gekachelte Wand sieht. Dem Vater wachsen Schläuche aus dem Körper, wie die Beine einer Spinne krabbeln die Plastikkanülen über das Bett. In Maries Handtasche vibriert es. Sie ignoriert das Handy, wird Jakobs SMS erst Stunden später lesen. Am späten Abend fährt sie zur Wohnung der Großmutter, wo sie sich in das frisch überzogene Bett legt. Am nächsten Morgen steigt sie wieder in Bus und Straßenbahn und fährt zum Krankenhaus. Hält die trockene Hand des Vaters in der ihren und wartet darauf, dass etwas geschieht, doch es geschieht nichts.
Sonntagabend fährt sie zurück nach Wien, unterrichtet, korrigiert Hausübungen und bereitet Tests und Schularbeiten vor. Samstagmittag verlässt sie das Schulgebäude mit gepackter Reisetasche, fährt zum Südbahnhof, Bahnsteig vierzehn, und wartet darauf, dass der Zug einfährt. Als sie drei Stunden später ins Krankenhaus kommt, sitzt die Tante bereits im Warteraum.
»Der Arzt glaubt, dass er nichts mehr spürt«, sagt sie. »Er ist ein lebender Toter.« Sie weint.
Marie streicht der Tante unbeholfen über den Rücken und schickt sie nach Hause. Sie sei ja jetzt da, die Tante solle sich ausruhen. Dann geht sie ins Zimmer des Vaters. Man hat ihn verlegt, in einen kleinen Raum mit gelben Wänden. Aus seinem Körper wachsen immer noch Kabel, klettern zu einem Kasten hinauf. Der Bildschirm zeigt Herzschlag, Puls und Sauerstoffsättigung an. Die Krankenschwester kichert. Schlägt Marie vor, die Klammer am Zeigefinger des Vaters bei sich anzustecken: »Probieren Sie mal!«
Mit einem erwartungsvollen Nicken sieht sie Marie an, also tut die ihr den Gefallen, nimmt die Klammer vom Finger des Vaters und steckt sie an den eigenen Zeigefinger. Die gelbe Linie verändert sich nur kurz und pendelt sich wieder ein. Marie steckt die Klammer wieder auf den Finger des Vaters. Streicht ihm sanft über den Handrücken und sieht auf die Sauerstofflinie. Der Vater hat bessere Werte als ich, denkt sie. Dann fragt sie sich, wie lange er wohl hier liegen wird. Und was, wenn er nie wieder aufwacht?
Hugo Steinwedel befindet sich zu diesem Zeitpunkt auf den Stufen des kleinen Wohnhauses in der Via Magione und isst Feigen. Neben ihm sitzt seine junge Frau Sofia und blättert in einer Illustrierten. Die Sonne ist bereits am Untergehen, und die Hitze des Tages lässt ein wenig nach. In den letzten Tagen ist es windstill und schwül gewesen. Sofias Haare kleben im Nacken, die Haut darunter schmeckt salzig. Ihr Duft ist in diesen Tagen würziger als sonst, ganz so, als hätte man dem Honig eine Prise Rosmarin beigemengt. Hugo lehnt seinen Kopf an ihre Schulter und atmet tief ein. Von oben dringt Essensgeruch auf die Gasse herunter, vermischt sich mit Sofias Duft. Hugo kann Paprika und Tomaten ausmachen. Fünf Minuten später durchschneidet Anna Grazias Stimme die Abendstille. Mit einem behaglichen Seufzen stemmt sich Hugo hoch, und auch Sofia klappt die Zeitung zu.
Als die Krankenschwester kurz darauf das Krankenzimmer abermals betritt, teilt Marie ihr aufgeregt mit, dass sie den Vater seufzen gehört habe.
»Das ist normal, da müssen Sie sich keine Sorgen machen.«
Marie weiß, was sie damit sagen will.
Am Mittwoch ruft Walpurga in Wien an und teilt Marie mit, dass man Hugo in ein Rekonvaleszentenheim verlegen wolle.
»Der Arzt hat gesagt, dass wir uns langsam nach einem geeigneten Pflegeplatz umschauen sollten«, sagt sie.
Man will Hugo also loswerden. Die Betten in den Krankenhäusern sollen für jene frei sein,
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