Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)
und ein hagerer Typ mit weißem Vollbart.
Was hat dieser dicke Palatschinkenkoch mit Joes Testament zu tun? Und warum soll sie ausgerechnet in den Prater kommen?
Marie nimmt die Einladung aus dem Kuvert, liest sie zum hundertsten Mal. Ein Satz, den Joe einmal gesagt hat, fällt ihr ein.
»Gott ist ein schlechter Gärtner. Er stellt uns wie Pflanzen in ein Glashaus, gießt ein paar Mal drüber und geht dann auf ein Bier.«
Und was, wenn alles nur ein übler Scherz ist? Wenn Joe gar nicht tot ist, wenn er sie aus der Ferne beobachtet? Sie stellt sich vor, wie sie vor der Zwergerlbahn warten wird. Kinder werden an ihr vorbeirennen, Spaziergänger werden mit ihren Hunden vorübergehen, und im Hintergrund wird sie das Kreischen und Juchzen der Kleinen hören, wenn sie von den Plastikzwergen angespritzt werden. Sie wird dort stehen und warten, und keiner wird kommen. Und ausgerechnet in dem Moment, in dem sie sich umdrehen wird, um zu gehen, wird sie jemand an der Schulter packen, herumwirbeln, sie auf den Mund küssen, und ihr Herz wird fast in die Hose rutschen …
Mit quietschenden Reifen kommt der Bus zum Stehen. Marie fällt nach vorne, halb aus dem Sitz heraus.
»Krautschädl, bleder!«, schreit der Busfahrer.
Mit einem Ruck kehrt Marie in die Gegenwart zurück. Sie reckt den Hals. Ein Auto ist zu weit in die Kreuzung hineingefahren. Wie dumm ich doch bin, denkt sie. Als wäre ich nicht bei der Beerdigung gewesen, als hätte ich nicht Joes Sarg gesehen. Und was denk ich da überhaupt, wie wenn ich mir wünschen würde, dass er noch lebt, dass er mit einem Mal auftaucht und mich küsst.
3 Februar ist eine schlimme Zeit, da dauert die Kälte schon zu lange an. Eisig pfeift der Wind ums Haus und bringt die Menschen hinter ihren dicken Vorhängen zum Zittern. Nicht umsonst treffen sich im Februar die Gaukler und Narren, um mit ihren Masken und bunten Kostümen das Grau aus den Städten zu vertreiben. Gelingen will es ihnen dennoch nicht so recht. Zwar zeigt sich die Sonne an manchen Tagen schon zaghaft und versucht, die Städter von ihrer Kraft zu überzeugen – dann wandert alles auf die umliegenden Hausberge, wo man ihr ein wenig näher zu sein glaubt –, doch diese Zeit ist nur von kurzer Dauer, und schon nach ein paar Tagen glaubt man nicht mehr an die flüchtige Wärme. Wie ein ferner Traum erscheint sie einem, wenn man am Donaukanal entlangspaziert, und der Wind die kahlen Äste und den Mantelkragen wieder fest im Griff hat.
So gehen auch Max und Gerd an diesem kalten Februartag, eingewickelt in dicke Mäntel, die Praterstraße entlang, hinunter zu ihrer Wirkungsstätte, dem legendären Haus des Praterkasperls, das jetzt ganz neu ist und gar nicht mehr an den aufmüpfigen Witzbold von einst erinnert. Der Prater wird immer bunter und lauter, aber seine Glanzzeiten sind vorbei, da helfen auch die vielen Hochschaubahnen und der neue Eisvogel nichts. Am unteren Ende der Praterstraße, gleich unten beim Praterstern, wo der alte Tegetthoff auf die Fußgänger hinunterblickt und man neuerdings alles aufbohrt, dort, wo alles trist, dreckig und grau ist und sich die Wiener Schwermut in ihren düstersten Farben über die Menschen legt, wohnen Gerd und Max, Herren des legendären Praterkasperls und der berüchtigten Hexe Tussifussi. In ihrer kühlen Zweizimmerwohnung direkt über der brodelnden Stadt vollführen sie jeden Morgen das gleiche Ritual. Gerd sprüht Schaum auf seine Handfläche und verteilt ihn auf Max’ Gesicht, und Max sitzt ganz still, lässt sich die Cappuccinotasse in die Hand legen, und wartet mit geschlossenen Augen auf Gerds zarte Berührung. Das Auftragen der weißen Maske dauert etwa eine halbe Stunde. Gerd grundiert, pudert und pinselt, und Max wackelt mit der Nasenspitze. »Halt still«, sagt Gerd und fährt mit dem Kajal am unteren Rand des Maxauges entlang, bis in die seichten Augenwinkelfältchen hinein.
Dann verlassen sie die Wohnung. Arm in Arm schlendern sie am Tegetthoff-Denkmal vorbei, um Podreccas beschimpfte Stahlkonstruktion herum und in den Prater hinein und streben, das Riesenrad rechts liegen lassend, auf das neue Kasperlhaus zu.
Heute haben sich zwei Kindergartengruppen angemeldet. Max holt den hölzernen Gesellen aus seiner Truhe, einst Liebling aller Wiener, heute nur noch Staffage fürs Kinderfernsehen.
»Was meinst du?«, sagt er zu Gerd. »Ob es eine gute Idee war, dem alten Palicini zuzusagen? Glaubst du wirklich, das lässt sich machen?«
Gerd, einer Generation
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