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Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)

Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)

Titel: Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margarita Kinstner
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Marie zum Lachen.
    Marie fragt sich, was die Stationsärzte wohl gesagt haben, wenn sie Doktor Michael, wie Joe ihn nennen durfte, auf den Zeichnungen erkannt haben.
    »Wieso machst du das?«, hat sie Joe gefragt. »Du wirst Probleme kriegen, die werden dich hier nie rauslassen.« Er hat nur mit den Schultern gezuckt. Erst Jahre später, als sie ihm auf der Schmelzbrücke über den Weg lief, meinte er: »Die haben mich genau deswegen rausgelassen. Die wollten mich so schnell wie möglich loswerden.«
    Und vielleicht hatte er sogar recht, denkt Marie jetzt, als sie Zucker in den Kaffee rührt und in den Vorraum tapst, um sich die Daunenjacke zu holen. Sie stellt sich auf den Balkon und steckt sich eine Zigarette an. Die Katze läuft zu ihr, streicht um ihre Beine und springt auf den Tisch. Im Fenster gegenüber sieht Marie eine Zigarette aufglimmen, wie ein Morsesignal, das nur für sie bestimmt ist. Ob das der Mann der Staubtuchfrau ist? Bestimmt legt er sich gleich zu ihr, denkt sie. So wie ich mich zu Jakob legen werde. Ob auch er an seine Vergangenheit denkt? Eine Vergangenheit vor seiner Ehe mit einer, die immer alles aus dem Fenster beutelt?
    Marie dämpft die Zigarette aus. Sieht der Katze zu, wie sie an den vertrockneten Rosmarinzweigen knabbert. Der Keramiktopf kippt um, rollt über die Tischkante und zerspringt mit einem Klirren. Erde bröckelt auf die Betonfliesen. Marie zündet sich noch eine Zigarette an, denkt an den Abend, an dem sie Joe zum ersten Mal wiedersah.
    Sie wollte zu einer Veranstaltung, zu der sie ein Arbeitskollege eingeladen hatte. Das Lokal war auf der anderen Seite der Schmelzbrücke, gleich beim Stiegenabgang. Marie ging, von der U-Bahnstation kommend, über die Brücke. Wollte den jungen Mann, der auf der anderen Seite stand, nach dem Lokal fragen, also ging sie nochmals zurück, überquerte die Fahrbahn und ging zur anderen Seite der Brücke. Sie erkannte ihn sofort. Nach einer Weile, die sie einander einfach nur angestarrt haben, sagte Marie: »Ich habe heute keine Marille dabei.« Eine Sekunde später hatte sie vergessen, warum sie über die Brücke gegangen war. Sie blieb neben Joe stehen und blickte auf die Züge. Joe wollte alles über sie wissen. Er bombardierte Marie mit Fragen, und sie antwortete. Erzählte – während der Wind über die halb gefüllten Weingläser strich und eine zarte Melodie in die Abenddämmerung entließ –, wie sie zu studieren begonnen hatte, wie sie von zu Hause ausgezogen war, dass sie gerade ihr Probejahr als Lehrerin absolvierte, und dass sie vielleicht sogar an der Schule bleiben können würde.
    Die Frage, was Joe hier eigentlich tat – Marie warf einen Blick auf die mit Wasser gefüllten Weingläser und die Marionetten –, stellte sie erst, als sie einander alles andere erzählt hatten. Joe antwortete nicht. Verlangte stattdessen von ihr, dass sie sich auf das Geländer setzte.
    »Du musst keine Angst haben, ich halt dich ganz fest«, versprach er, also kletterte sie mit seiner Hilfe hoch, schwang die Beine über die Eisenkonstruktion und ließ sie dann hinunterbaumeln. Dabei fragte sie sich, ob sie jetzt völlig durchgedreht sei. Immerhin kennst du ihn nicht, wer weiß, wie der drauf ist, vielleicht ist er noch verrückter, als er mit dreizehn war, vielleicht schubst er dich hinunter. Doch Joe hielt sie fest umschlungen und presste dabei sein Gesicht in ihre Nackenbeuge.
    Als der Mond wie ein fetter Käselaib die Schornsteine hochkletterte und sich im Gewirr der Oberleitungen verfing, saß sie noch immer auf dem Geländer, und erst als er seinen Befreiungsakt schon fast vollendet hatte und sich über die Dächer davonmachte, sammelten sie Gläser, Stuhl und Tisch ein und trugen alles in die Zwölfergasse hinunter. Joe kaufte eine Flasche Rotwein, in demselben Lokal, in dem Maries Arbeitskollege vergeblich gewartet hatte, dann gingen sie hinauf in seine Wohnung.
    »Auf die, die einmal übers Kuckucksnest geflogen sind«, sagte Joe, als er ihr das Weinglas in die Hand drückte. Zwei Stunden später lagen sie nebeneinander und strichen einander zaghaft über die Haut.
    Marie dämpft die Zigarette aus. Hebt die Katze hoch und trägt sie ins Zimmer. Schließt die Balkontür. Dann zieht sie die Jacke aus und geht ins Bad, wo sie den Wasserhahn aufdreht und den Kopf ins Waschbecken hält. Sie schamponiert ihr Haar und kneift die Augen zusammen. Als sie wieder hochkommt, sieht sie in den Spiegel. Sucht nach Zeichen des Alters und findet keine. Sieht

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