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Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)

Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)

Titel: Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margarita Kinstner
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ineinander, und wieder muss Gery an Joe und Marie denken, und dass er die Liebe, von der Joe immer gesprochen hat, auch gern einmal spüren würde.

2  Marie legt die Hände des Vaters auf das weiche Päckchen, das sie ihm mitgebracht hat. Sie sitzen am großen Fenster. Im Garten der Sigmund-Freud-Klinik geht einer seine Runden, den Oberkörper leicht nach vorne gebeugt, die Hände in den Manteltaschen vergraben.
    Marie wickelt das Geschenk aus. Es ist ein altes Stofftier, ein weicher, grauer Dachs. Der Plüsch am Hals ist so dünn und abgegriffen, dass der Kopf des Stofftieres wackelt.
    »Kannst du dich erinnern? Den hast du mir einmal geschenkt.«
    Der Vater bewegt sich nicht.
    Was hat sie sich gedacht? Dass er mit seiner Hand über das verfilzte Kunstfell streichen würde?
    Marie flüstert. »Den Dachs hast du mir im Eggenberger Schloss gekauft.« Sie sitzen vor dem Fenster. Marie hört den Stift der diensthabenden Schwester übers Papier kratzen.
    »Im Schloss hat es ausgestopfte Tiere gegeben. Füchse, Hasen und Rehe. Und eine Dachsfamilie. Sie sind alle vor furchtbar kitschigen Waldkulissen gestanden, aber mir haben sie gefallen. Ich habe immer versucht, sie zu fotografieren, kannst du dich erinnern? Meist hat man aber nur den Blitz gesehen, der sich in der Glasscheibe gespiegelt hat. Weil ich so enttäuscht war, hast du mir dann den Dachs gekauft.«
    Sie streicht mit dem Finger über den Handrücken des Vaters.
    »Weißt du noch, wie Mami immer geschimpft hat, weil ich den Dachs überallhin mitgenommen habe? Sie hat mir verboten, ihn ins Bett mitzunehmen. Aber sobald sie das Zimmer verlassen hat, habe ich ihn wieder unter die Bettdecke gezogen. Und weil Mami in der Früh dann noch mehr geschimpft hat, hast du mir die kleine blaue Wippe gebaut.«
    Marie lehnt ihren Kopf gegen die Schulter des Vaters. Tränen kitzeln auf den Wangen, sie fängt sie mit ihrer Zunge auf, sobald sie auf der Oberlippe ankommen. Dann richtet sie sich wieder auf und sucht nach einem Taschentuch. Merkt nicht, dass einer der Patienten von hinten an sie herantritt.
    »Geht es Ihnen gut?«
    Marie zuckt zusammen.
    »Danke, es geht schon wieder.«
    Die Krankenschwester sieht von ihrem Kreuzworträtsel auf.
    »Ich habe kein Taschentuch«, sagt Marie und lächelt den Mann an.
    Der Mann geht zur Schwester und bittet sie um ein Kleenex. Kommt zurück und hält es Marie hin, streicht ihr kurz über die Schulter und geht dann in sein Zimmer. Die Schwester senkt den Kopf. Sie ist wohl daran gewöhnt, dass hier geweint wird, denkt Marie.
    Sie haben die Wippe bei ihrem Umzug nach Wien vergessen und den Verlust erst zwei Wochen später, als alle Kartons ausgepackt waren, bemerkt. Der Vater rief die Großmutter an und bat sie, bei den neuen Wohnungseigentümern nachzufragen, doch die hatten die Wippe längst entsorgt.
    Der Vater baute Marie keine neue Wippe. Überhaupt war er plötzlich ein anderer, als hätte die Wiener Luft ihn vergiftet. Statt mit Marie ins Naturhistorische Museum zu gehen, lag er auf dem Sofa. Marie ging einkaufen und schlichtete die Sachen in Kühlschrank und Kästen. Setzte sich an den Küchentisch und notierte die Ausgaben in ein Schulheft. Danach setzte sie sich neben den schlafenden Vater und strich ihm übers Haar. Der Vater schnarchte, und manchmal wimmerte er im Schlaf.
    Am Morgen hob Marie die leeren Zigarettenpackungen und Flaschen auf und stopfte alles in einen schwarzen Müllsack, den sie am Weg zur Schule in einen großen Container legte, ganz vorsichtig, damit niemand hören konnte, dass in ihm Glasflaschen waren. Währenddessen fragte sie sich, was wohl mit ihr geschehen würde, wenn jemand die Flaschen entdeckte. Würde sie in ein Heim kommen, oder würde sie wieder zur Großmutter nach Graz ziehen dürfen?
    Sie sieht aus dem Fenster.
    »Wie schnell der Winter vergangen ist.«
    Eine Weile bleibt sie noch sitzen, dann steht sie auf, drückt dem Vater einen Kuss auf die Wange und steckt das Geschenkpapier in den nächsten Mülleimer.
    Sie verlässt die Klinik und geht über die matschigen Parkwege zur Haltestelle. Im Bus entwertet sie ihren Fahrschein und setzt sich auf die Rückbank. Greift in die Handtasche, öffnet das Seitenfach und holt den Brief heraus. Jedes Mal, wenn sie Palicinis Unterschrift sieht, muss sie an seine Palatschinken denken: wunderbar dünne süße Teigscheiben, gefüllt mit Powidl und Mohn, ein Häufchen Sauerrahm obendrauf.
    Sie saßen beim Tisch gleich neben dem großen Herd. Joe, Gery, sie

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