Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)
wachen Blick, die kümmert sich, päppelt den Haltlosen auf und verabreicht Seelentropfen. Alle zwei Tage kommt Gery zu ihr und bringt ihr Bücher und DVDs aus der Bücherei mit. Setzt sich auf ihr Blümchensofa, sieht ihr beim Schaukeln und Wippen zu und fühlt sich dabei wie ein kleines Kind. Das ist wie Ferien bei der Großmutter, die er nie gehabt hat, da gibt es Kaffee und Kuchen und Filme in Schwarzweiß. Nur der Cognac passt nicht so recht zum Oma-Enkelkind-Nachmittag.
Bei Hedi kann er sich zurücklehnen und die wunden Handgelenke reiben. Sie hört ihm zu und stellt keine Fragen. Das Leben ist, wie es ist, daran ändern auch Erklärungen nichts. Wozu sich aufregen, denkt sich Hedi schon lange, das beschert einem ja doch nur ein Magengeschwür. Dabei hat sie selbst eines, aber davon darf Gery nichts wissen, genauso wenig wie ihre Tochter, obwohl die bestimmt ein gutes Rezept wüsste. Aber davor fürchtet sich Hedi am allermeisten, Haferschleimsuppe bis zum Tod, da stirbt man lieber ein paar Monate früher und bekämpft das Stechen in der Magengrube mit Cognac.
Hedi weiß, dass es dem Ende zugeht. So wie alle Zweiundachtzigjährigen wissen, dass es dem Ende zugeht, auch wenn es bei manchen dann noch fünfzehn Jahre dauert. Das Alter bringt den Vorteil absoluter Ruhe mit sich, da setzt man sich freiwillig in ein Schlauchboot und treibt die Donau hinunter, da muss einen nicht erst das Schicksal an Händen und Beinen fesseln und Watte in den Mund stopfen. Im Alter sieht man alles aus der Distanz, schaut man wie der liebe Gott auf das menschliche Treiben und lächelt darüber hinweg. Deswegen stehen die Stühle der Alten immer vor dem Fenster, bewegt sich der Vorhang so oft. Wenn einem kein eigenes Leben mehr bleibt, muss man am Leben der anderen teilhaben, sonst würde man vor Langeweile auf der Stelle tot umfallen. Das würde den Politikern so passen, ein voller Pensionstopf, den man umschichten könnte, am besten in die eigene Tasche. Da schaut man lieber aus dem Fenster, lebt noch ein paar Jahrzehnte und lässt sich sagen, man schädige die Staatskasse.
Hedi Brunner kann sich nicht beklagen, ihr verstorbener Mann hat bei der Bahn gearbeitet und ihr eine saftige Witwenpension hinterlassen. Sie kann sich die eine oder andere Schnitte aus der Konditorei und das Fläschchen Cognac also leisten. Gery isst die Tortenstücke allein, schlingt sie hinunter, und Hedi sieht ihm dabei zu. So ist sie, die Jugend, die muss essen, dass einmal etwas wird aus ihr. Mit zweiundachtzig braucht man nicht mehr viel, da geht man an allen Ecken und Enden ein, wird krumm, zusammengefaltet und brüchig wie eine Ziehharmonika, auf der niemand mehr spielt.
»Iss ruhig, mein Mittagessen war eh so üppig«, sagt sie.
Üppig, von wegen, denkt Gery, als er das rosafarbene Papier der Konditorei in den Mistkübel wirft, da drinnen liegen drei Viertel davon. Doch er denkt nicht weiter darüber nach, verdrängt stattdessen die eigene Leere mit Hedis Tortenstücken, spült den Wattebausch mit Tee und Kuchen hinunter und lässt ihn durch die Speiseröhre wandern, bis er im Magen liegen bleibt, wo ihn Hedi Stück für Stück herausoperiert. Danach fährt er nach Hause und legt sich neben Sonja.
Die nimmt, was sie bekommen kann und schluckt die Gedanken an die Zukunft hinunter. Irgendwann wird alles hochkommen, dann wird sie mit einem einzigen riesigen Schwall alles auskotzen. Vielleicht wird es ihr dann besser gehen. Alles geht vorüber, wie der Winter und der Schnee.
Nebenan singt der Nachbar, übt mit der Thailänderin für den Talentwettbewerb, wie eine Kinderflöte quietscht Mimis Stimme:
Oh-oh-oh, so in love!
Im Hintergrund dröhnt der Rhythmus des Keyboards. Man ist ausgerüstet, fünfundvierzig Instrumente, hundertzwanzig Rhythmen. Herbert Sichozky hat sie alle durchprobiert, und Gery war auf der anderen Seite der Wand live dabei.
Armes Würstchen, denkt er über den Nachbarn, der bekommt nicht einmal mit, wie lächerlich er sich vor der gesamten Zuschauerschaft macht, wenn er im Hawaiihemd auftritt und sich von dem ehemaligen Fußballstar, der in der Jury sitzt, bewerten lässt.
Das österreichische Privatfernsehen ist ein apokalyptischer Vorbote, frauensuchende Bauern, familientauschende Mütter und singende Exfußballer läuten den Untergang der Zivilisation ein. Aber wenigstens hat der Nachbar noch einen Traum.
Gery legt seine Hand in Sonjas Schoß, fährt ihr mit den Fingern durchs Schamhaar, ihre Zungen verschränken sich
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