Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)
denen wirklich zu helfen ist. Als Marie sich neben Jakob legt und sagt: »Aber am Sonntag hat mein Vater geseufzt«, streicht er ihr übers Haar. Küsst sie auf die Stirn und sagt: »Meine arme Kleine.« Daraufhin beschließt Marie, nie wieder mit ihm über ihren Vater zu reden.
6 Sonja schiebt den Rock hoch und den Slip hinunter und drängt sich gegen Gerys Unterleib. »Nicht jetzt«, sagt der, doch sie hört nicht auf, öffnet seine Gürtelschnalle, zieht und zerrt, bettelnde Augen, fordernder Mund.
»Wir müssen miteinander reden«, schiebt er sie weg, am Tisch vorbei, wo sie sich ihr Knie anstößt.
»So kann ich nicht weitermachen. Ich bin einfach nicht verliebt in dich.«
»Was soll das? Warum sagst du mir das?«, schreit sie ihn an. Sie sitzt jetzt auf dem Sofa, sieht ihn von unten her an, wie er gegen die Wand gelehnt steht, die Handflächen an der Mauer, den linken Fuß ebenfalls, den rechten auf dem Boden, das Knie durchgestreckt.
Aus dem Buchregal kriecht der Lichtkegel eines vorbeifahrenden Autos, wandert über den Plafond und schiebt sich durch die Wand aus dem Zimmer hinaus.
»Soll ich gehen?«, fragt Sonja, und Gery weiß, dass sie nicht ihn fragt, sondern sich selbst. Wie eine quallige Blase hängt ihre Frage in der Luft.
»Glaubst du denn, ich sei in dich verknallt?«, schreit sie, als er nicht antwortet, ihre Stimme erinnert an eine pfeifende Teekanne, überschlägt sich kurz und bricht dann jäh in sich zusammen, als hätte jemand den Herd abgedreht.
Gery dämpft die Zigarette aus.
»Ich mag dich wirklich, sehr sogar«, sagt er. »Aber ich empfinde nicht mehr als freundschaftliche Gefühle für dich.«
»Und warum ficken wir dann die ganze Zeit miteinander? Zum Ficken gehört doch mehr als nur Freundschaft!«
Er bleibt stehen, sieht sie an, antwortet nicht. Als ob Ficken etwas mit Verliebtsein zu tun hätte, denkt er.
»Ich kann dir nicht das geben, was du verdienst.«
»Was ich
verdiene
?« Sie lacht, prustet in den Wein hinein, Rotz spritzt ihr aus der Nase.
»Lass uns nicht streiten, okay?«
Er steht auf, geht zum Kleiderschrank und holt die Kameratasche heraus. »Ich möchte dir was zeigen.«
Sonja sieht ihm dabei zu, wie er den Laptop aufbaut und die Speicherkarte aus der Kamera nimmt. Fragt sich, warum sie hier sitzen bleibt, noch immer mit der Lust zwischen den Beinen und den Stichen im Brustkorb. Der Wein benebelt ihre Gedanken, nimmt ihr das Morgen, das Heute, das Gestern, sie trinkt das Glas leer und schenkt sich nach. Als ob es um seinen blöden Film ginge, denkt sie. Sie liegt auf der Couch, die Beine auf der Rückenlehne, den Kopf über den Rand nach unten, der Kehlkopf drückt gegen die Haut, sie räuspert sich, verschluckt sich, kommt hustend hoch. Aus dem Laptop hört sie das Rattern eines Zuges.
»Ist das nicht geil? Ein super Sound«, sagt Gery und dreht den Bildschirm zu ihr. Ein wolliger weißer Hund läuft ins Bild. Kleiner kläffender Köter, was soll ich jetzt mit dir, denkt Sonja, und beginnt zu lachen. Sieht sich selbst, wie sie auf dem Sofa sitzt und auf den Hund starrt. Gery reißt eine Zigarettenpackung in Streifen. Faltet, zündelt und rollt den Karton zu einem Filter. Seine Nägel fahren die Konturen ab, die Finger lang und kräftig, die Lippen zu einem konzentrierten Strich gezogen.
»Das war vorgestern«, sagt er, mit Blick auf den Bildschirm. »Ich hab die leere Brücke filmen wollen, da ist auf einmal dieser Hund ins Bild gelaufen. Das hat doch was Irres, findest du nicht?«
Sonja findet nichts Irres, nicht an dem Hund, und auch nicht an der Brücke und den darunter fahrenden Zügen. Noch vor zwei Monaten hätte ich mir das nicht vorstellen können, denkt sie, diesen Dreck, diesen Abgrund. Hier zu sitzen und diesem dämlichen Hund zuzusehen, wie er auf der Brücke steht und gegen die Mauer pisst, als gäbe es für ihn nichts Schöneres, als vor einer Kamera zu pinkeln. Sonjas Zeigefinger ertastet eine Laufmasche. Sie bohrt hinein und kichert.
7 Wo hat sie nur schon wieder die Brille?
Hedi läuft vom Wohnzimmer in die Küche und wieder zurück. So etwas Dummes, ohne Brille kann sie nicht lesen, weder die Zeitung noch das Buch, das ihr Gery aus der Bücherei mitgebracht hat. Irgendwo muss die Brille doch sein! Und wie es in der Küche nach diesem Essen stinkt! Dabei verträgt sie es sowieso nicht, bekommt jedes Mal Bauchkrämpfe und Durchfall davon. Wer weiß, was sie da alles hineintun. Konservierungsstoffe und Glutamate. Wirklich frisch
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