Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)
schon von den Alten, denkt er, von ihrem Leben und ihren Gefühlen? Wir sehen nur verrunzelte Haut, aber wer denkt schon daran, dass auch sie einmal jung gewesen sind, dass sie sich verliebt und verrückte Dinge angestellt haben.
Ein kleines Rädchen, erst einmal in Gang gesetzt, kann alles verändern. Der Motor in Hedis Leben hieß Ilja Dimitrij Solwojow. Vierundzwanzig Jahre jung und doch schon ein Mann von Welt für ein Bauernmädchen aus dem Weinviertel. Ilja kannte Rachmaninow in- und auswendig, hatte die Partituren all seiner Klavierkonzerte im Kopf, noch bevor Hedi überhaupt ahnte, was sie in einem bewirken können. Die lichtblauen Augen unter Iljas dunklen Wimpern zeugten von einem Heimweh, das Hedi ans Herz rührte. Nicht Russland, die Musik war es, in der Ilja zu Hause war. Eine Heimat, aus der er vertrieben worden war, noch bevor er sich in ihr hatte einrichten können.
Kurz nach seiner Aufnahme ans Rimski-Korsakow-Konservatorium war Leningrad von den Deutschen eingekesselt worden. Bald darauf hatten Hunger und Kälte den Alltag regiert. Die Stadt der Musik lebte dennoch weiter, selbst dort, wo man sich zum Widerstand formierte, wurde gesungen und getanzt. Über Monate hinweg existierten die Elfenbeintasten und das Maschinengewehr nebeneinander. Während man tagsüber am Musiktheater probte, schloss man sich nachts dem Widerstand am Stadtrand an.
Für Ilja endete Rachmaninows Konzert in fis-Moll am Schlachtfeld. Während rings um ihn die Kameraden starben, brach Olga Solwojowa auf der Bühne des Kirow-Theaters zusammen. Ilja überlebte, seine Mutter jedoch verstarb noch in derselben Nacht an Unterernährung. Leningrad hatte eine seiner besten Mezzosopranistinnen verloren.
Vier Jahre später saß Ilja auf einem Panzer des Modells IS-2 und fuhr durch die staubigen Straßen von Oberkreuzstetten. Kanonendonner grollte durchs Weinviertel und versetzte jeden in Angst und Schrecken.
Die neunzehnjährige Hedwig Zeinninger saß im Keller zwischen ihren Eltern. Als nach fünf Stunden noch immer nichts zu hören war, sagte sie: »Mir reicht’s, ich geh jetzt hinauf, die Küh müssen gemolken werden und zum Fressen haben’s auch noch nix kriegt.«
Und so ging sie nach oben, dicht gefolgt von Mutter und Vater. Am Hof war es ruhig, nur hier und da sauste ein russisches Wort durch die Luft und verfing sich in einer der Ecken. Zweihundertfünfzig Meter weiter unten machten es sich die Eroberer im Weingartmann-Haus gemütlich. Hedi molk die Kühe und kümmerte sich nicht darum. Ein Tag wie jeder andere, dachte sie trotzig, und die Kühe gaben ihr wiederkäuend recht, sie fragten nicht nach Russen und Amerikanern, ihnen war es gleich, wer sie molk und wer ihre Milch trank.
Während ringsum die Frauen nur mehr in Gruppen aus dem Haus gingen, verrichtete Hedi ihre Arbeit wie immer. Sie hatte keine Angst. Vor den Nazis hatte sie Angst gehabt. Aber die Russen? Schlimmer konnten die auch nicht sein. Den Bruder hatten die Nazis umgebracht, einen Kommunisten hatten sie ihn geschimpft, dabei hatte der Ferdl nichts anderes im Sinn gehabt als seine Bücher.
»Dorthin haben ihn die Bücher jetzt gebracht«, hatte die Mutter geheult, nachdem sie ihn abtransportiert hatten.
Und jetzt waren die wirklichen Kommunisten da. Aber die hatten keine Bücher im Kopf, die stiegen den Frauen nach, da konnten die sich noch so sehr unter ihren Kopftüchern verstecken. Jetzt hatten plötzlich alle Angst, jetzt redeten sie nicht mehr so groß daher. Der Bruder hatte recht gehabt. »Irgendwann«, hatte er gesagt, »bekommen sie die Rechnung präsentiert.«
Und auch Hedi bekam die Rechnung präsentiert, in Form von zwei Augen, blassblau wie der Himmel im März.
»Milch?«, stand er plötzlich vor ihr und zeigte auf den Eimer zu ihren Füßen. Der Vater kam angerannt, denn so ein Russe im Kuhstall, gleich neben der Tochter, das hieß nichts Gutes. Er dachte schon an das Gewehr des Vaters und überlegte, wo die Munition aus dem Ersten Weltkrieg war.
»Milch wollen’s haben«, sagte Hedi, den Blick fest auf die Euter gerichtet, denn so ein Euter gibt Halt, wenn plötzlich einer mit so schönen Augen vor dir steht.
»So gib sie ihm halt, in Herrgotts Namen. Und dann brauch ich dich am Feld«, sagte der Vater und ging wieder hinaus.
Hedi leerte den Inhalt des Kübels in eine Kanne.
»Du mir wiederbringen«, sagte sie.
»Ich bringe sie Ihnen ganz bestimmt morgen wieder.«
Da staunte die junge Hedi Zeinninger nicht schlecht, als sie aus
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