Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)
einmal gehen lassen, hat nicht auf die Frau geachtet, sie schien so in Gedanken versunken, und sonst war da niemand, nur der Kleine und er. Beim Gedanken daran fängt es in seiner Hose wieder zu pochen an. Verstohlen sieht er sich um. Am Zeitungskiosk steht ein Mann, mit dem Rücken zu ihm, an der Haltestelle eine alte Frau. Willi denkt an weizenblondes Haar und glitzernde Kinderaugen und verschafft sich Erleichterung.
»So was, jetzt sieh dir bloß den an«, empört sich Walpurga Schindelböck und stößt ihre Nichte in die Rippen. »Ich hab ja immer schon gesagt, Wien ist kein Ort zum Leben. So was Perverses!«
Marie, die den Professor nicht erkennt, zerrt die Tante weiter. »Komm, lass den doch, wir haben es eilig.«
Es hat einen Grund, warum Walpurga Schindelböck in Wien ist. In Wien hat sie Bekannte, die ihnen behilflich sein können, an Hugos Geld zu kommen. Bei der BAWAG holt sie das rote Büchlein aus der Tasche. Und wieder denkt Marie: Ich habe nicht einmal gewusst, dass Papa Wertpapiere besitzt.
August Scheuchenstuhl, Mitglied derselben Verbindung, der Walpurgas verstorbener Mann angehört hat, räuspert sich. »Schade, dass der Oskar damals nach Graz gezogen ist«, sagt er und erinnert sich, wie er mit seinem ehemaligen Kameraden voller Inbrunst
Meum est propositum in taberna mori
gesungen hat. Jetzt ist August Scheuchenstuhl zuständig für Hedgefonds aller Art, die vierhundertfünfzig Stück OMV-Aktien des Hugo Steinwedel sind unter seinem Niveau, aber was tut man nicht alles für die Witwe des ehemaligen Kameraden.
»Schade, das mit dem Oskar«, sagt er noch einmal. »Weißt du, sein Vater hat sich damals sehr gekränkt, als er einfach so weggezogen ist.«
August Scheuchenstuhl geht zum Faxgerät und schickt die Unterlagen an die zuständige Filiale.
»Habt ihr eine Ahnung, wie das Passwort lautet?« Er wirft Walpurga einen verschwörerischen Blick zu.
»Meine Nichte Laetitia«, deutet Walpurga mit einem Nicken auf Marie, »meint, es könnte Sofia lauten. Oder Laetitia, wie sie selbst.«
Marie mag den Bankangestellten nicht. Mag es nicht, dass sie ausgerechnet von ihm abhängig sind, um an das Geld des Vaters zu kommen.
Scheuchenstuhl lässt die Finger über die Tastatur hüpfen. Schüttelt den Kopf, tippt wieder, schüttelt abermals den Kopf. Dann huscht ein Grinsen über sein Gesicht.
»Wie wär’s mit Laetitia Maria?«
Wie gerne sie ihm eine knallen würde. Mit einem einzigen Schlag seine Brille samt seiner Selbstzufriedenheit vom Gesicht fegen.
»Siebzehntausendvierhundertsechs Komma neun Euro insgesamt«, sagt der Bankbeamte. »Wollt ihr die Aktien verkaufen? Man könnte in sichere Staatsanleihen …«
»Nein.« Maries Stimme klingt bestimmt. Sie zieht ein weiteres Buch heraus. »Das ist das Sparbuch, auf das die Dividenden geschrieben werden. Die Einträge gehen allerdings nur bis zweitausendundeins.«
August Scheuchenstuhl rückt seinen Seidenschal zurecht. Schiebt dann das Sparbuch in den Drucker.
»Na, da hat sich ja eine Menge Geld angesammelt«, sagt er. Marie hat das Gefühl, dass er sich über sie lustig macht. Was sind schon zweitausendvierhundertfünfunddreißig Euro?
Zweitausendvierhundertfünfunddreißig Euro sind eine Menge Geld für eine junge Lehrerin, vor allem, wenn der Vater bald einen Platz in einem Pflegeheim brauchen wird. Zweitausendvierhundertfünfunddreißig Euro sind die Kosten für ein Vierteljahr. Mit dem Geld werden sie die Zeit überbrücken, bis die Frage der Vormundschaft geklärt ist. Dann wird die Rente des Vaters an das Heim überwiesen werden. Den eventuellen Restbetrag werden die Aktien abdecken. Marie merkt, wie das Gefühl der Anspannung, das sie seit Wochen mit sich herumträgt, nachlässt. Wir werden es schaffen, denkt sie, und das erste Mal glaubt sie wirklich daran. Papa wird ein schönes Bett bekommen, in einem Zimmer mit Fenster ins Grüne, und wir werden es uns leisten können. Daran, wie lange der Vater so liegen wird, ob drei Jahre oder drei Jahrzehnte, versucht sie nicht zu denken.
Wieder im Freien, streicht Walpurga der Nichte über den Oberarm.
»Wirst sehen, es wird alles gut.«
Plötzlich rinnen Marie Tränen über die Wangen. In letzter Zeit kommen ihr so leicht Tränen, da reicht es schon, wenn sie die Straßenbahn verpasst, oder wenn einer der Schüler im Unterricht zu lachen beginnt. Ständig muss sie einen Kloß hinunterschlucken.
Sie lässt sich von der Tante über den Platz ins nächste Café führen, wo sie sich
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