Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)
nicht wie ein kleines Kind, nicht wie Traude, die ihr nichts mehr zutraut und immer gleich an Alzheimer denkt. Mit Gery kann Hedi über alles reden. Fast so wie mit Inge in den letzten Jahren vor ihrem Tod, als sie sich wieder öfter getroffen haben.
Wie lange wird er noch zu ihr kommen? Irgendwann wird er feststellen, dass er Wichtigeres zu tun hat, als auf ihrem Sofa zu sitzen. Oder einen Film über sie zu drehen.
Er spricht jetzt öfter davon. Ob sie sich vorstellen könnte, in ein Aufnahmegerät zu sprechen, hat er sie gefragt. Spannend wäre das schon, ihr eigenes Leben als Film zu sehen, auch wenn es kein Spielfilm sein wird, denn Gery möchte eine Dokumentation drehen, mit alten Fotos und Landschaftsaufnahmen. Keinen Film, in dem eine junge Hedi Zeinninger herumlaufen wird, und vielleicht ist das auch besser so. Wenn sie an die dürren Dinger denkt, die man heute über den Bildschirm laufen sieht. Obwohl: Dürr war sie damals auch. Sie ist ja schon als junges Mädel eine Bohnenstange gewesen, aber in ihrer ersten Zeit in Wien war sie regelrecht ausgehungert. In der Stadt hat es ja nichts zu essen gegeben, nur Erbsen und Bohnen, und wieder Erbsen und Bohnen. Sogar den Kaffee haben sie aus den Hülsenfrüchten gemacht.
Hedi setzt sich in den Schaukelstuhl und schlägt die Zeitung auf. Überblättert die Innenpolitik und die Chronik. Das Zeitunglesen macht ihr keinen Spaß mehr. Was geht es mich an, was in der Welt passiert?, denkt sie. Und wenn ich diese blöde Schweinegrippe bekomme, dann werd ich auch nicht gleich daran krepieren.
Hedi schlägt die Zeitung zu und klappt das Buch auf, das auf dem Tisch neben dem Schaukelstuhl liegt. Seit Gery für sie in die Bücherei geht, hat sie immer genug zu lesen. Und wie Traude geschaut hat, als sie den DVD-Player gesehen hat.
DVD, denkt Hedi. Siehst du, jetzt ist dir der Name ja doch wieder eingefallen, so senil bist du also noch gar nicht!
»Wo hast du denn den her?«, hat Traude gefragt.
Als Hedi ihr erzählt hat, dass Gery ihr einen besorgt hat, hat sie nur den Kopf geschüttelt.
»Wozu brauchst du denn einen DVD-Player? Du hast doch Telekabel. Kannst du überhaupt umgehen mit so einem Ding?« Und dann: »Ich frag mich, warum du einen Wildfremden losschickst, wenn du doch mich hast.«
Eifersüchtig ist sie, die Traude! Dass ich auf meine alten Tage noch jemanden finde, mit dem ich mich gut verstehe. Jemanden in Jakobs Alter!
Hedi kichert und schaukelt heftig. Das Miss-Marple-Buch fällt auf den Boden und klappt zu.
Im Moment liest sie alle Miss-Marple-Romane. Die haben ihr schon vor fünfzig Jahren gefallen. Manchmal leiht Gery ihr aus der Bücherei auch einen Film aus. Meist sind es alte Filme, aus einer Zeit, in der Hedi noch jung gewesen ist, aber bei seinem vorletzten Besuch hat er einen modernen Film mitgenommen. Einen Film, in dem eine hübsche Frau ihren erstochenen Ehemann in eine große Kühltruhe legt und dann im Wald vergräbt und Besuch von ihrer toten Mutter bekommt. Der Film war lustig. Ein spanischer Film, von einem berühmten Regisseur, hat Gery gesagt. Wenn sie wenigstens solche Filme im Fernsehen zeigen würden!
Hedi hebt das Buch vom Boden auf. Als sie nach der Packung mit dem Zwieback greift, hört sie den Schlüssel im Schloss. Hastig öffnet sie die kleine Tischlade und lässt die Packung darin verschwinden. Wenn Traude den Zwieback entdeckt, kocht sie ihr bestimmt Haferschleimsuppe. Da hat sie lieber Bauchschmerzen!
8 Ein kleiner Bub mit Haaren wie ein reifes Weizenfeld sitzt neben seiner Mutter in der Straßenbahn und lässt die Füße baumeln. Fasziniert sieht er dem Mann zu. Irgendetwas hat er unter seiner Zeitung versteckt. Ein Geheimnis. Ist es ein Luftballon? Immer wieder verschwindet die Blase in der Faust des Mannes, um kurz darauf wieder aufzutauchen. Der Junge starrt unter die Zeitung, der Mann lächelt ihn an. Da ist es wieder, dieses lustige Ding.
»Hör auf, gegen das Plastik zu treten.«
»Schau mal, Mama! Schau mal, was der Mann da hat!«
Die Straßenbahn fährt in die Station ein, der Mann springt auf, wie ein Gehetzter verlässt er den Waggon. Er fällt der jungen Frau sofort auf. Und wie er sich die Zeitung vor die Hose hält, der wird doch nicht …?
Die Straßenbahn fährt ohne den Mann mit der seltsamen rosa Blase weiter Richtung Innenstadt und der Bub schiebt die Unterlippe vor. »Schade, der war lustig!«
Willibald Blasbichler lehnt sich gegen die Plexiglaswand der Telefonzelle. Er hat sich wieder
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