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Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)

Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)

Titel: Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margarita Kinstner
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einen Milchkaffee bestellt und eine Zigarette anzündet. Die Tante quittiert Maries Rauchen mit einem Nasenrümpfen, sagt jedoch nichts. Sieht stattdessen den Leuten nach, die über den Kohlmarkt eilen. Marie denkt an Jakob. Heute findet das Experiment statt, auf das sich seine Forschungsgruppe so lange vorbereitet hat. Eine Überweisung mittels Quantenverschlüsselung, vom Rathaus zur Zentrale der Creditanstalt. Schade, dass Jakobs Photonen nicht auch Passwörter knacken können, denkt Marie, dann hätte ich mir diesen Scheuchenstuhl erspart.
    Ob er anrufen wird, so wie er es ihr versprochen hat? Vielleicht wird er sie über dem Experiment vergessen. Danach wird er nach Hause kommen und fragen, ob bei ihr alles gut gelaufen sei. Sie wird schon schlafen, wenn er nach Hause kommt, und er wird sich neben sie legen. Sie wird aufwachen und im Halbschlaf murmeln, dass alles geklappt hat, und er wird sagen: »Na siehst du.« Dann wird er ihr übers Haar streichen und ihr alles über das gelungene Experiment erzählen.
    Marie blinzelt gegen die Sonne.
    Vielleicht tue ich ihm unrecht, denkt sie. Ich wüsste auch nicht, was ich sagen sollte, wenn Jakobs Vater plötzlich ins Wachkoma fiele. Vielleicht würde ich Jakob auch übers Haar streichen und »Das wird schon wieder« sagen.

9  »Erzähl einfach aus deinem Leben. So, als würdest du es mir erzählen.«
    Gery legt den MP3-Player auf den Tisch.
    Jetzt dreht er also wirklich einen Film über sie. Hedis Stimme wird aus dem Off erzählen und ein heiseres Lachen produzieren, während er mit seiner Kamera nach Oberkreuzstetten fahren wird. Er wird sich die Kopfhörer in die Ohren stecken und die Kamera auf das Haus und die Felder richten. Danach wird er ins Haus gehen und um die alten Fotografien bitten, die laut Hedi im hinteren Zimmer in einem Karton liegen sollen. Wenn es diesen Karton überhaupt noch gibt.
    »Im Haus meiner Eltern wohnt jetzt der Sohn meiner Cousine«, erzählt Hedi. »Der hat aus dem Gewächshaus, das der Vater in den Siebzigern hat bauen lassen, ein Atelier gemacht. Aber leben kann er nicht von seiner Bildhauerei, der Bernd. Deswegen muss er tagsüber im Magistrat arbeiten. Und wenn er nach Hause kommt, ist es im Gewächshaus längst dunkel, da hat er von den vielen Scheiben gar nichts mehr. Überhaupt sieht jetzt im Ort alles ganz anders aus. Die Landwirtschaft bringt ja nichts mehr ein. Die Jungen arbeiten alle in Wien. Haben sich die Häuser der Eltern hergerichtet, wenn sie nicht überhaupt alles niedergerissen und neu aufgebaut haben. Unser Haus ist eines der wenigen, die noch so aussehen wie früher. Aber auch nur, weil der Bernd nicht viel verdient.«
    Gery hat Kaffee gekocht. Mittlerweile kennt er sich aus in Hedis Küche, weiß, wo Filter und Kaffee sind, wo die Löffel und der Zucker. Im Wohnzimmer holt er das geblümte Service aus der Vitrine. »Ein Geschenk von den Eisenbahnern«, hat Hedi ihm einmal erzählt. »Damals war man noch etwas wert, da ist man als Angestellter noch wie ein Mensch behandelt worden.«
    Die Griffe und Ränder der geblümten Tassen glänzen golden. Hedi spreizt den kleinen Finger weg. Gery findet, dass sie aussieht wie die Königin von England.
    »Du siehst aus wie Queen Elisabeth«, sagt er.
    »Dabei bin ich nur die Hedi Brunner aus Oberkreuzstetten. Und du drehst einen Film über mich!« Sie lacht. »Du bist schon ein komischer Kerl!«
    Bald wird er in ihren Heimatort fahren. Davor wird er den Akku seiner Kamera aufladen und einen neuen Speicherchip einlegen. Ob sie nicht doch mitkommen will, hat er sie gefragt, er könnte einen Leihwagen mieten, wenn ihr die Bahnfahrt zu anstrengend sei. Doch Hedi hat nichts davon wissen wollen. »Was soll ich auf meine alten Tage in Oberkreuzstetten? Ich hab mit dem allem nichts mehr zu tun. Mit zweiundachtzig kann man nicht einfach sagen: Schaut her, da bin ich wieder.«
    Sie spreizt den kleinen Finger weg. Er hat ihr das Mikrophon vorhin am Blusenkragen befestigt.
    »Ohne die Kühe hätte ich den Ilja nie kennengelernt«, sagt sie jetzt. Sie sitzt ein wenig steif, als hätte sie Angst, man könne ihre Bewegung auf der Aufnahme hören.
    Gery mag es, wenn sie sich erinnert. Sie bekommt dann immer so ein Leuchten in den Augen, und die Fältchen in ihren Augenwinkeln versprühen eine Fröhlichkeit, die im ganzen Wohnzimmer spürbar ist.
    Hedi erzählt, und bald schon hat sie das Mikrophon vergessen. Gery lehnt sich zurück und legt seine Finger um die Kaffeetasse. Was wissen wir

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