Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)
zuversichtlicher geworden. Trotzdem fragt sie sich, wie ihr Leben weitergehen soll. Nächste Woche wird sie dreißig. Vielleicht muss sie kein Kind bekommen, um glücklich zu sein. Andererseits ist man mit dreißig heutzutage nicht alt. Sie hat noch Zeit, jemanden kennenzulernen. Heute kann man auch noch mit achtunddreißig Mutter werden, sogar mit zweiundvierzig.
Sonja geht die Straße vor, den Sack über die Schulter geworfen. Die Sonne wärmt ihr den Rücken, sodass sie in ihrem Pullover zu schwitzen beginnt.
Und was, wenn ich Gerys Angebot annehme? Kann das funktionieren? Einen Freund zu haben wäre nicht schlecht. Jemanden, dem man alles erzählen kann. An den man sich anlehnen kann. Mit dem man lachen kann.
Sonja öffnet die Klappe des Containers und wirft den Sack hinein. Der Eissalon auf der Hütteldorfer Straße hat seit einer Woche geöffnet. Sie wird sich ein Eis holen, eines, das sie mitnehmen kann, und sich dann gemütlich vor den Fernseher setzen. Und dann kann sie immer noch überlegen, wie sie ihren Geburtstag verbringen will, ob sie einfach zu Hause bleibt oder doch mit den Arbeitskolleginnen etwas trinken geht.
11 Am Calafatiplatz im Wiener Wurstelprater stehen vier Gestalten und unterhalten sich mit lautem Gekeife. Nicht, weil sie streitlustig sind, sondern weil es bei all dem Gequietsche und Gerassel, Gedröhne und Getrommel gar nicht anders möglich ist, sich zu unterhalten. Beim Würstelstand der dicken Herta haben sich Goldketten-Charly, Mustafa und Geister-Bertl versammelt.
Hertas wulstige Lippen stülpen sich über ein Debreziner-Würstel. Fett rinnt ihr das Kinn hinunter und tropft auf die fleckige Schürze.
»So ein Blödsinn«, sagt sie immer wieder und schüttelt den Kopf, sodass ihre Wangen wackeln.
Charly, der King des Autodroms, wie immer in einem blauen Adidas-Sportanzug und mit einer dicken Goldkette zwischen dem blondem Brusthaar, sticht mit der Holzgabel in seine Käsekrainer und fährt sich mit dem Handrücken über die Stirn.
»Und ihr glaubt’s wirklich, es geht drum, wia oid a so a Gerät is?«, fragt er.
»Erste Wiener Hochschaubahn, Grottenbahn, Riesenrad, das alte Geisterschloss«, sagt Herta. »Sogar den Eisvogel soll sich dieser Italiener ang’schaut haben. Alles, was es vor dem Krieg auch schon gegeben hat.«
»Aber Eisvogel ist ganz neu!«, entgegnet Mustafa (der in Wirklichkeit gar nicht Mustafa, sondern Arjanit heißt, aber wer merkt sich schon so einen Namen?). Genüsslich zuzelt er an seinem Minibaguette mit Senf und Ketchup. »Eisvogel haben sie doch gerade erst gebaut!«
»Der alte Eisvogel«, klärt Herta den Wahlwiener auf, »war vor dem Krieg so richtig in Mode. In jedem Film sind’s zum Eisvogel gangen, die Wessely, der Moser … Aber im Krieg ist dann alles zerbombt worden. Der ganze Prater, alles nur mehr Schutt und Trümmer.« Sie seufzt.
»Vielleicht ist dieser Palicini ja ein Produzent aus Hollywood, der irgendein Remake plant.«
Geister-Bertl, der aussieht wie der fleischgewordene David, scharrt mit dem Fuß in den Kieselsteinen. Lockig fällt ihm das Haar in Stirn und Nacken, und einen Körper hat er, dass alle Mädchen (und nicht nur die Mädchen) ins Schwärmen kommen.
»Was ich nicht versteh«, scharrt er, »ist, warum dieser Palicini ausgerechnet dieses alte Geisterschloss will. Meine Geisterbahn ist doch viel gruseliger. Und größer ist sie auch, aus dem alten Schloss ist man doch in fünf Minuten wieder draußen. Nicht einmal die Kinder finden das noch spannend!«
»Gruselig, haha!«, dröhnt Mustafa, dann stellt er sich hin und rezitiert mit heiserer Stimme: »Halt, ihr Leute, bleibt doch steh’n. Wollt ihr echte Zombies seh’n? Dann kommt herein und nehmt euch Zeit, die Welt der Zombies ist bereit! Das Blut beginnt euch gleich zu kochen, und zittern werden eure Knochen …«
Herta steckt sich das letzte Stück Debreziner in den Mund und unterbricht ihn: »Ich hab neulich den Gerd getroffen. Der sagt, dem Kasperl kommt jetzt seine Idealrolle zu. Eine Testamentseröffnung! Ich bin mir sicher, dass da dieser Italiener dahintersteckt. Stellt’s euch das einmal vor, was für ein G’schäft wir in Zukunft damit machen könnten!«
»Und erst, wenn sie kommen in meine Zombiehaus! Denn meinen Worten könnt ihr trau’n: Pünktlich um zwölf um Mitternacht, da fängt sie an, die Leichenschlacht!«
»Jetzt hör einmal mit diesem blöden Zombiespruch auf. Bei dir gibt’s ja nicht einmal eine Bahn, da müssen die Leute zu Fuß
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