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Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)

Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)

Titel: Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margarita Kinstner
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dem russischen Mund ein so schönes Deutsch hörte, denn so ein Deutsch, das hörte man sonst nicht oft, da musste man schon nach Wien fahren. Nur die alte Weingartmann sprach ein schönes Deutsch, aber mit der redete keiner, denn sie galt als verrückt, und jetzt hatten sich auch noch die Russen bei ihr einquartiert.
    »Das war eine ganz andere Zeit, damals«, sagt Hedi und lacht.
    »Und Ilja?«, fragt Gery.
    Ilja Dimitrij Solwojow kam von da an jeden Morgen. Pünktlich um sieben stand er im Stall, um sich die Kanne auffüllen zu lassen. Und als er eines Morgens nicht auftauchte, brachte Hedi sie höchstpersönlich zum Haus der alten Weingartmann. Und dort hörte sie zum ersten Mal Rachmaninows Klavierkonzert in c-Moll.
    »Als ich es später einmal in einem Konzert hörte, hat es mir gar nicht mehr so gut gefallen. Weil das alte Klavier von der Weingartmann war ja schon ganz verstimmt, da hat sich alles ganz anders angehört. Aber es war das Schönste, was ich je gehört hab.«
    Die junge Hedi stand in der Tür, lehnte sich andächtig gegen den Rahmen, und erst als es sie im Ellbogen zu ziehen begann, stellte sie die Kanne leise ab. Eine Weile blieb sie noch stehen, doch dann fiel ihr ein, dass die Eltern auf sie warteten. Also ging sie, ganz in Träumereien versunken, die staubige Straße zurück zum Hof. Die Mutter schimpfte: »Wie kann man nur so blöd sein und ganz allein zu den Russen gehen? Glaubst, die alte Weingartmann hilft dir, wenn’s über dich herfallen?« Aber Hedi war ganz beseelt, und wenn ein junges Mädel beseelt und der Krieg gerade vorbei ist und der Mohn auf den Wiesen blüht, dann kann eine Mutter nicht viel ausrichten. Und so sah man die junge Hedi Zeinninger schon bald mit dem gut aussehenden Russen zwischen den Feldern spazieren, und endlich gab es wieder etwas zu reden im Dorf.
    Hedi wollte mit Ilja nach Leningrad. Sie ließ sich vom Konservatorium erzählen, vom Kirow-Theater, an dem Iljas Mutter gesungen hatte, von den hellen Nächten im Juni und vom Ladogasee. Ilja konnte es kaum erwarten, Oberkreuzstetten den Rücken zu kehren. »Vier ganze Jahre«, sagte er und riss den jungen Weizen aus. »Weißt du, in Leningrad klingt Rachmaninow ganz anders als hier, das musst du mir glauben!«
    Und Hedi glaubte es. Alles glaubte sie ihm.
    »Und das war auch gut so«, sagt sie jetzt. »Die wenigsten glaubten damals noch an irgendetwas.«
    Sie blinzelt in den Märzhimmel. Hinter den Gardinen tanzen die ersten Blütenblätter. Ja, es war eine schöne Zeit, da können die anderen sagen, was sie wollen. Alle sprechen von den schlechten Zeiten damals, und damit haben sie nicht einmal unrecht. Aber wenn einer in dieser Zeit jung gewesen ist, wird er sich immer mit einem wehmütigen Lächeln im Gesicht erinnern, denn die Alten leben nun einmal gern in der Vergangenheit, und die Wiener ganz besonders.

10  Sonja räumt die gebügelte Wäsche in den Kleiderschrank. Am Boden häufen sich Hosen, Blusen und Pullover, daneben steht der schwarze Müllsack für den Kolping-Container. Ausmisten, sagt man, tut der Seele wohl. Vor allem nach einer Trennung, und Sonja hat gleich zwei davon hinter sich.
    Neben dem Müllsack liegen ein dicker weißer Pullover, ein Schal, drei olivefarbene T-Shirts sowie zwei Männerunterhosen, Reste von Jakobs Garderobe.
    Sie könnte seine Sachen in den schwarzen Sack stopfen. Immerhin hatte er genug Zeit, sein Eigentum zurückzufordern. Sonja räumt das Jakobgewand in den Schrank. Es kann doch nicht so schwer sein, sich wie zwei vernünftige Leute in einem Kaffeehaus zu treffen! Man soll mit der Vergangenheit abschließen. Nicht einfach jemandem die Schlüssel hinlegen, ohne ein Wort zu sagen.
    Sie saugt den Kastenboden aus und wischt die Schubfächer ab.
    Vorige Woche ist der neue Boden verlegt worden. Die Versicherung hat sie zu Fliesen überreden wollen, doch sie hat auf Parkett bestanden. Der Installateur hat den Schlauch am Geschirrspüler ausgetauscht. Als die Bodenleger die Bretter herausgerissen haben, hat es im ganzen Stiegenhaus nach Schimmel gerochen.
    »Eine schöne Wohnung haben Sie da«, hat einer der Arbeiter gesagt. Und es stimmt ja auch, hat sie gedacht, nur, dass keiner mehr da ist, der es bemerkt. Niemand außer ihr und einem Arbeiter, der nach zwei Stunden wieder ging.
    Sie bindet den Sack mit den ausgemusterten Kleidern zu und schließt die Kastentür. Dann schlüpft sie in die Schuhe und geht die Stiegen hinunter.
    In den letzten Tagen ist sie wieder ein wenig

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