Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)
gehen!«
»Pah!«, ruft Mustafa. »Was glaubst du, wie es den Leuten gruselt bei mir, wenn sie gehen müssen so ganz allein durch dunkle Tunnel! In deine Bahn soll es gruselig sein? Da lachen ja die Enten!«
»Hühner«, kommt es aus dem Mund der dicken Herta, und schon hüpft ein dicker Wurstbrocken zwischen den falschen Zähnen hervor und verfängt sich im Brusthaar von Goldketten-Charly, der ihn mit einer lässigen Bewegung auf den Boden schnippt.
»Wann du endlich unsere Sprache lernen, Mustafa, Enten nix können lachen!«
»Hühner auch nicht«, entgegnet Mustafa. »Und mein Deutsch ist besser als deines, Charly.«
»Ist so eine Testamentseröffnung im Prater überhaupt legal?«, fragt Bertl.
»Keine Ahnung, kenn ich mich bei so was aus?«, sagt Herta. »Aber wird schon legal sein, sonst würd der Italiener es doch nicht machen, oder? Soll ja der Wille des Verstorbenen gewesen sein.«
Ja, am Würstelstand am Calafatiplatz trifft man sich gerne. Hier tauscht man sich aus und erzählt einander die letzten Neuigkeiten. Herta, das alte Tratschweib, kennt sich aus mit Pratergerüchten, und wenn einer etwas wissen will, so braucht er nur auf ein Paar Würstel zu gehen.
Während die drei wieder zu ihren Standplätzen zurückspazieren, Charly in seinem blauen Adidas-Anzug, Bertl in den engen Jeans und Mustafa in einer grauen Bundfaltenhose, während der Wind Charly und Mustafa in die Hosenbeine fährt und sie aufbläht und das Quietschen der Bumper-Bahn sich mit der Stimme Rainhard Fendrichs vermischt und Bonnie Tyler
Total Eclipse of the Heart
in den Praternachmittag hinauskatapultiert, haben die Menschen außerhalb des Praters ganz andere Sorgen, sprechen von Weltwirtschaftskrise und Schweinegrippe, von politischem Versagen und fehlendem Impfstoff.
Wie gut geht es einem dagegen im Untergrund des Wiener Kanalisationssystems. Ein paar Meter unter Hertas Würstelstand befindet sich ein kleines Labor, ganz ähnlich dem unter der Donau. Gleich wird dort ein verschränktes Lichtteilchen ankommen, geschickt von der sechshundert Meter entfernten Sendestation namens Alice. Der japanische Austauschstudent Haruto steht erwartungsvoll vor dem Computer.
»Bereit?«, fragt Jakob durchs Telefon.
Haruto fühlt sich das erste Mal in seinem Leben wirklich wichtig.
»Bereit«, sagt er.
Am anderen Ende des Quantenkanals, in dem kleinen unterirdischen Labor in der Nähe der Steinspornbrücke, schaltet Jakob den Pumplaser ein und richtet ihn auf den Kristall. Während Photon A nach der Verschränkung bei der Sendestation unter der Donauinsel bleiben wird, macht sich Photon B auf die Reise. Durch achthundet Meter Glasfaserkabel wird es die Hauptader des Wiener Abwassersystems entlangflitzen. Über Telefon gibt Jakob die Messanweisungen an Haruto weiter. Stellt sich dabei die Überraschung in dessen Augen vor, wenn er feststellen wird, dass die Photonen, die bei ihm ankommen, immer denselben Quantenzustand annehmen werden wie die, die auf Jakobs Seite verbleiben. Man kann es hundert Mal gelesen haben, in dem Moment, in dem man es das erste Mal hautnah miterlebt, ist es immer wieder faszinierend.
Nicht unweit vom Wurstelprater, gleich über dem letzten Abschnitt, den die Photonen Richtung Empfängerstation zurücklegen, steht Willibald Blasbichler vor seiner ehemaligen Schule. Er wird heute nicht dabei sein, wenn Jakob den Austauschstudenten einweist, aber das ist auch nicht nötig. Das Projekt ist nicht neu, dass es funktioniert, haben sie schon vor einiger Zeit bewiesen. Deswegen kann er die Arbeit auch ruhig Jakob überlassen, er kennt sich aus, weiß, was zu tun ist. Noch immer gehen ihnen zu viele der verschränkten Photonen verloren, aber immerhin messen sie mittlerweile fünfzig Prozent. Vor einem halben Jahr waren es nicht einmal dreißig. Und vor einem Monat haben sie erstmals ohne Faserkabel übertragen, per Satellit, direkt durch den Großstadtqualm, von der Kuffner Sternwarte bis zum Millennium Tower. In den Zeitungen sah man Willibald Blasbichler neben dem silberbärtigen Dekan mit erwartungsvollem Gesicht in die Kamera blicken.
Willi lehnt vor dem großen eisernen Schultor und sieht den Buben dabei zu, wie sie den Basketball zwischen ihren Handflächen und dem Beton springen lassen. Daneben lehnen Mädchen ihre Pobacken gegen die Mauer und stoßen Rauchwolken gen Himmel, die Blicke auf jene geheftet, die den roten Ball nur ihretwegen mit jugendlicher Eleganz in den Korb befördern. Andere stecken ihre Köpfe in
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