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Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)

Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)

Titel: Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margarita Kinstner
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Inge ließ nicht gelten, dass er nichts von seinem Kind wusste. »Na und?«, sagte sie, »er hätte dir doch schreiben können, dann hättest du es ihn bestimmt wissen lassen!« Ihr Schimpfen ließ Hedi in Lachanfälle ausbrechen, und Hedis Lachen wiederum ließ Inge mit roten Backen sagen: »Wie kannst du über das alles auch noch lachen?« Hedi fuhr sich nur schmunzelnd über den Bauch. »Weinen macht es auch nicht besser, und das Kind mag es, wenn ich fröhlich bin.« Dabei dachte sie an Leningrad, von dem Ilja ihr an den Abenden erzählt hatte, an denen sie Hand in Hand über die Stoppelfelder gegangen waren und einander im untergehenden Schein der Sonne ihre Liebe bewiesen hatten. Eine Liebe, von der sie von Anfang an gewusst hatten, dass sie keine Zukunft haben würde.
    Der Winter neunzehnhundertsiebenundvierzig zwang die Wiener mit aller Kraft in die Knie. Hedi hielt den von Inge geschneiderten Wintermantel fest um ihren Bauch gewickelt. Als es endlich wieder wärmer wurde und die Frühlingssonne neue Hoffnung gab, verlor Hedi ihre Arbeit in der Feuerzeugfabrik. Eine Hochschwangere konnte man nicht gebrauchen, und draußen warteten schon andere, Kräftigere.
    Anfang April kam dann das Kind zur Welt. Wassily war ein kräftiger Junge, doch schien es, als wäre mit seinem Körper auch die ganze Kraft aus Hedis Leib gerutscht. Mutlos saß sie vor dem Fenster, den kleinen weinenden Jungen im Arm, und wusste plötzlich nicht mehr, wie es weitergehen sollte. Als Inge ihr schließlich von der Tochter des Drogeriebesitzers und ihrem verzweifelten Kinderwunsch erzählte, fasste Hedi einen Entschluss. Am sechzehnten Mai, dem Tag ihres einundzwanzigsten Geburtstages, wickelte Hedi ihr sechs Wochen altes Baby in eine Decke und trug es in den Stadtpark. Dort traf sie sich mit einer hochgewachsenen blonden Frau und übergab ihr den Jungen.
    Ein Jahr danach lernte sie Ernst Brunner kennen. Dass sie für ihn nur Freundschaft empfand, störte sie nicht. Sie war nicht die Einzige, die damals so entschied.
    Neunzehnhunderteinundfünfzig kam Traude zur Welt. Hedi merkte schon während der Schwangerschaft, dass sie für das Ungeborene nicht dasselbe empfand wie bei ihrer ersten Schwangerschaft. Hedi liebte ihre Tochter nicht. Nicht so, wie sie den kleinen Wassily geliebt hatte. Trotzdem legte sie die Kleine an ihre Brust, wiegte sie in ihren Armen, trug sie durch die Wohnung, wenn sie nicht einschlafen konnte, und sah ihr dabei zu, wie sie ihre ersten Schritte tat. Später half sie dem Mädchen bei den Hausübungen und lobte ihre Schulleistungen. Währenddessen pendelte Ernst Woche für Woche nach Kaprun, wo er beim Bau des Kraftwerks eine gut bezahlte Stellung gefunden hatte. An den Wochenenden kam er nach Hause, unternahm mit seiner Frau und seiner Tochter Ausflüge in den nahe gelegenen Wienerwald oder ging mit der Kleinen in den Prater Ringelspielfahren. Jeden Sonntagabend drückte er seiner Tochter vor dem Schlafengehen Schokolade in die Hand, als kleines Trostpflaster dafür, dass sie den Vater bis zum Freitagabend nicht sehen würde. Traude weinte jedes Mal.
    Drei Jahre später war der Bau des Kraftwerks beendet. Ernst fand eine Anstellung bei den Österreichischen Bundesbahnen und kam jeden Tag pünktlich zum Abendessen nach Hause. Als Hedis Menstruation erneut ausblieb, ging Traude bereits aufs Gymnasium. Hedi setze sich jeden Morgen auf einen Topf heißes Wasser, doch es half nichts. Ernst, der nichts von den täglichen Bemühungen seiner Frau wusste, freute sich auf seine zweite Tochter.
    Anna hinkte in der Entwicklung hintennach. Sie begann spät zu sprechen und auch sonst wirkte sie ein wenig schwerfällig. Als sie in die Schule kam, bestätigte sich das, was Hedi schon lange ahnte. Für Anna würde es nur eine Chance im Leben geben: einen Mann, der für sie sorgt, in welcher Form auch immer.
    Hedi fährt mit dem Daumen über das silberfarbene Gerät. Wozu erzähle ich das alles? Meine Töchter sind erwachsen und ich kann nichts mehr an ihrem Leben ändern. Vor allem nicht ihre Kindheit, die alles andere als glücklich gewesen ist.
    Sie holt die Cognacflasche aus der Kredenz und gießt sich ein Glas ein. Trinkt es leer und schenkt sich noch einmal ein. Oberhalb ihres Nabels saugt sich eine wohlige Wärme fest und bringt ihre Zehenspitzen zum Kribbeln.
    Vielleicht hätte ich den Ernst nicht heiraten sollen, denkt sie. Dann wäre meinen Töchtern vieles erspart geblieben.

17  Ein Mann und eine Frau gehen eingehängt

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