Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)
Planck’sche Wirkungsquantum
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sei schließlich eine Naturkonstante, und auch eine Femtosekunde betrüge auf der ganzen Welt immer zehn hoch minus fünfzehn Sekunden. Er lacht.
Plötzlich fragt sich Marie, ob sie wirklich ihr ganzes Leben von Femtosekunden, Photonenverschränkung und dem Planck’schen Wirkungsquantum hören will. Ob es vielleicht gar nicht so sehr darum geht, dass man einander liebt oder nicht liebt, sondern vielmehr darum, ob man ähnlich denkt. Jakob denkt in Minushochzahlen, Jakob erklärt sich die Welt in Formeln. Für ihn gibt es nichts, das sich nicht logisch erklären ließe. Alles existiert, solange es sich in mathematischen Gleichungen ausdrücken lässt. In Jakobs Leben gibt es keinen Platz für einen Hugo Steinwedel, der ins Koma fällt, nur weil er seine tote Frau so sehr liebt, dass er einer Gummipuppe ihr Kleid überzieht. Jakob würde sagen: »In einem Paralleluniversum sitzt dein Vater jetzt vor dem Fernseher und trinkt ein Bier.« Dabei würde sie so gerne mit ihm über den Vater sprechen. Hätte so gerne, dass er sagen würde: »Ich glaube schon, dass er etwas wahrnimmt, vielleicht nicht das, was um ihn herum geschieht, aber irgendetwas muss da sein.« Jakob macht sich Gedanken über Paralleluniversen und Zeitreisen, aber auf die Idee, ein Komapatient hätte so etwas wie eine Wahrnehmung, kommt er nicht. Deswegen weiß er auch nichts von der Gummipuppe, die der Vater in seinen Armen trug, als er in die Straßenbahn lief, ebenso wenig, wie er von Joe weiß, und der psychiatrischen Abteilung, in der Marie ihn kurz nach ihrem sechzehnten Geburtstag kennengelernt hat.
Sie nimmt einen Schluck vom Weißwein, und während Jakob und Haruto über Teleportation sprechen, denkt sie an Joe und den Vater, und dass die beiden einander vielleicht ähnlicher waren, als sie wahrhaben wollte. Dass vielleicht sogar das der Grund gewesen ist, warum sie sich in Joe verliebt hat.
»Hey, wo bist denn mit deinen Gedanken?«
Jakob zieht sie an sich heran und drückt ihr einen Kuss auf den Mund. »Es kommt eine Punkband aus Berlin«, sagt er dann. »Haruto möchte unbedingt hin.«
Punkmusik, denkt Marie, die passt doch überhaupt nicht zu Jakob. Und woher kennt Haruto eine Berliner Punkband?
Joe hatte Punkmusik zu Hause. Unzählige Kassetten, die er in den kleinen verstaubten Rekorder schob. Joe, schon wieder Joe.
»Kommst du mit?«
»Ja, klar«, sagt sie, obwohl sie weder Livekonzerte noch Punkmusik besonders mag.
16 Seit Gery diesen Film über sie drehen will, kommt Hedi ihrer Vergangenheit nicht mehr aus. Wie Ratten in ein faules Stück Obst verbeißen sich die Erinnerungen in ihre Hirnfalten und bescheren ihr nach einer langen Zeit der Ruhe wieder schlaflose Nächte. Vielleicht passiert ihr das, weil sie weiß, dass es dem Ende zugeht, und wenn man das einmal weiß, ist das Bedürfnis nach Schlaf ein zweitrangiges.
Hedi Brunner sitzt in ihrem Schaukelstuhl und wippt sachte vor und zurück. Auf ihrem Schoß liegt das kleine silberfarbene Gerät. Gery hat es ihr dagelassen, hat alles so eingestellt, dass Hedi nur auf den Knopf zu drücken braucht, wenn sie eine Aufnahme beginnen oder beenden will. Sie zieht das Mikrophon vom Kragen, legt es neben das Gerät.
Vorhin hat sie wieder hineingesprochen. Wie wird sich ihre Stimme anhören? Wie wird es sein, sich selbst beim Erinnern zuzuhören?
Sie bricht sich ein Stück von der Kochschokolade ab. Sie wird wieder Durchfall bekommen, doch sie kann der Lust auf Süßigkeiten nicht widerstehen. Im russischen Sektor, denkt sie, hat es keine Schokolade gegeben. Nur Erbsen. Das war die Strafe dafür, dass die Deutschen Leningrad ausgehungert hatten. Da konnte man noch froh sein, dass es wenigstens Erbsen gegeben hat, die hatte es in Leningrad nämlich nicht gegeben. Das Einzige, was Hedi wirklich geschmerzt hat, war das Wissen, dass das Kind in ihrem geschwollenen Leib nie seinen Vater kennenlernen würde. Ilja war längst wieder in Leningrad, und Hedi stellte sich vor, wie er am Klavier saß, seine Finger über die Tasten tanzen ließ und sie über der Musik vergaß. Sie war ihm nicht böse. Das war nun einmal der Lauf der Zeit. Ilja war in Leningrad zu Hause, sie hier.
Dafür schimpfte Inge umso ausgiebiger. Sie schimpfte über die Erbsen, die sie täglich aßen, die viel zu seltenen Gaslieferzeiten und den Schutt, den sie mithelfen musste wegzuräumen. Vor allem aber schimpfte sie über den russischen Kindsvater, der Hedi hatte sitzen lassen, denn
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