Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)
durchs heilige Viertel – Erzbischofgasse, Himmelhofgasse, Innocentiagasse. Sie sind einander nicht Mann und Frau, nicht Geliebter und Geliebte. Freunde? Vielleicht. Der Frühling hinterlässt Blütenmatsch auf den Gehwegen, die Innocentiagasse riecht wie ein geiles Weib nach Moschus und Orchideen. Gery dirigiert Sonja durch die Gassen, sie gehen bis hinunter nach Schönbrunn, dann durch den Schlosspark, vorbei an den Enten und kunstvoll angelegten Blumenbeeten. Dabei erzählt er ihr von seiner Vergangenheit, von den Eltern, die immer gestritten haben, von der Filmschule und von Joe.
Sonja zupft Blätter ab, in ihrem Kopf rattert ein Sprücherl.
Er liebt mich, von Herzen, mit Schmerzen, insgeheim, ganz allein, ein wenig, gar nicht.
Dabei weiß sie nicht einmal, wem das Sprücherl gelten soll, Gery oder Jakob oder keinem von beiden.
»Ich hab gar nicht gewusst, dass du am Land aufgewachsen bist«, sagt sie und folgt Gery aus dem Schlossgarten.
»O ja, und wie! Auf einer Wiese, hingeworfen wie ein Stück Vogeldreck, mitten in die grüne Landschaft hinein.« Gery lacht. »Im Frühling hab ich unten am Teich Kaulquappen gesammelt. Und in den Sommerferien hab ich Heu gereicht und beim Kukuruzauslösen geholfen.«
Sonja streift den Gummi vom Zopf, fasst das Haar erneut zusammen und wickelt den Gummi herum.
»Das Kukuruzauslösen war die schönste Arbeit, da hat man sitzen und träumen können.«
»Beim Kukuruzauslösen?«, fragt Sonja. »Wovon hast du da geträumt?«
»Dass ich irgendwann einmal nicht mehr dahocke, dass ich mich in die Filmschule einschreibe, und dann wird man meine Filme in Berlin und Cannes ansehen, die Köpfe zusammenstecken und
Großartig!
sagen.«
Gery kickt einen Kieselstein auf die Straße.
»Aber du warst doch auf der Filmschule«, sagt Sonja.
Sie gehen die Schlossallee hinauf, vorbei am Auer-Welsbach-Park und am Technischen Museum. Sie könnte mich fragen, wie ich zur Filmschule gekommen bin, denkt Gery. Dann würde ich ihr von der Landwirtschaftsschule erzählen, die ich drei Jahre lang besucht habe, weil der Vater das so wollte. Ich würde ihr erzählen, wie ich eines Tages im Bett gelegen bin und gewusst habe: Wenn ich jetzt nicht abhaue, dann tue ich es nie. Wie ich die ganze Nacht lang wach geblieben bin, um einen Brief an die Eltern zu schreiben, den ich dann doch nicht auf den Küchentisch gelegt habe. Wie ich in den Zug gestiegen und einfach nach Wien gefahren bin. Ich würde ihr von dem Aushang am Westbahnhof erzählen, auf dem stand, dass man bei der ÖBB Zugbegleiter suchte. Dass ich ins Auskunftsbüro gegangen bin und gesagt habe: »Ich würde das gerne machen, aber ich hab keine Ausbildung«, und dass der Mann gelacht hat, weil ich glaubte, als Schaffner brauche man eine abgeschlossene Lehre.
Wenn sie nur fragen würde. Aber sie fragt nicht. Jede Viertelstunde öffnet sie ihren Zopf und bindet ihn neu. Ihr kastanienbraunes Haar leuchtet im Schein der Straßenlaternen, es ist glatt und straff nach hinten gekämmt. Gery fragt sich, ob ihr das nicht wehtut. Er erinnert sich daran, dass auch er einmal die Haare schulterlang getragen hat und wie sehr seine Kopfhaut geschmerzt hat, wenn sich wieder einmal ein Haar im Gummi verfangen hatte.
Er führt sie die Schlossallee hinauf, dann die Felberstraße entlang zur Schmelzbrücke.
»Hier war ich immer mit Joe«, sagt er. Dann stemmt er sich am Geländer hoch, hebt zuerst das eine Bein darüber und dann das andere und setzt sich auf die schmale Brüstung.
»Hör auf mit dem Blödsinn, komm da runter«, flüstert Sonja.
Als ob sie Angst hat, ich könnte hinunterfallen, wenn sie mich zu laut anspricht, denkt er. Trotzdem hebt er das rechte Bein über das Geländer, stützt sich an ihrer Schulter ab, holt das linke Bein nach und springt auf den Gehsteig. Sonja schält eine kleine weiße Tablette aus einer Sichtverpackung und schluckt sie mit Speichel hinunter.
»Ich könnte eine Flasche Wein holen, unten gibt’s ein Gasthaus«, schlägt er vor.
»Ich will keinen Wein, aber Cola wäre nicht schlecht.«
Ihre Augen sind gerötet. »Das kommt von den Birkenpollen«, hat sie ihm vorhin gesagt, als er sie darauf ansprach. Jetzt sind ihre Augen noch röter als zu Beginn des Spaziergangs, fast so, als habe sie geweint. Gery stellt sich vor, wie es wäre, sie zu trösten. Den Arm um sie zu legen und ihren Kopf mit sanftem Druck gegen seine Brust zu pressen. Ich habe sie nie weinen sehen, denkt er, nicht als ich ihr gesagt habe, dass ich
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