Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)
Paralleluniversum auf sich?«
»Ich hab dir doch erzählt, dass der Quantenzustand, den ein Photon annimmt, erst im Augenblick der Messung entsteht«, sagt er in ihr Anziehen hinein. »Bevor du hinsiehst, ist alles möglich. Die Möglichkeiten überlagern sich, existieren gleichzeitig nebeneinander. So auch in unserem Leben. Wir entscheiden uns jede Sekunde neu. Ziehe ich die grüne Hose an oder die rote, gehe ich nach links oder nach rechts, gehe ich noch ein Bier trinken oder bleibe ich zu Hause, alle paar Sekunden eine neue Entscheidung.«
»Das werd ich sowieso nie kapieren«, sagt Marie. »Dass da nicht schon vorher was da ist, dass ihr erst durch eure Messung ein Photon zwingt, sich zu entscheiden, wie es positioniert ist.«
»Polarisiert.«
»Was?«
»Man nennt es polarisiert, nicht positioniert.«
»Sieht das so gut aus?« Marie dreht sich vor dem Spiegel. Sie fährt sich mit den Fingern durch die Locken und geht ins Vorzimmer, dicht gefolgt von Jakob.
»Jeden Augenblick wählst du eine Möglichkeit und schließt dabei andere Möglichkeiten aus, verstehst du? Im Moment entscheidest du dich gerade dafür, mich zur Institutsfeier zu begleiten. In einem Paralleluniversum sagst du mir jedoch ab und triffst dich mit einer Arbeitskollegin und lernst vielleicht einen anderen Mann kennen. Die noch so kleinste Entscheidung kann für unser ganzes folgendes Leben ausschlaggebend sein.«
»O ja«, gibt sie zu. »Was mach ich bloß heute Abend, lauter Verrückte, die über Paralleluniversen und Teleportation sprechen.
Beam me up, Scottie!
Am besten in ein neues Leben, eines, in dem ich gemütlich mit meinem Buch am Sofa liege. Dabei hab ich immer gedacht, ihr Wissenschaftler seid bodenständige Menschen.«
Sie schlüpft in die Schuhe, greift nach dem Schlüssel am Haken und schiebt Jakob durch die Tür. »Komm, den Rest kannst du mir auch unterwegs erzählen.« Sie bleibt mit dem Stöckel am Türsockel hängen und stolpert. Jakob fängt sie mit einer schnellen Drehbewegung auf.
»So was Blödes«, sagt sie und reibt sich den Knöchel. »Im Paralleluniversum wäre mir das jetzt nicht passiert.«
Eine Stunde später sitzt sie auf einer der langen Holzbänke und lässt sich vom silberbärtigen Dekan erzählen, von seiner Leidenschaft zur Musik und seinem Sohn, der sich nicht im Geringsten für das interessiert, was sein Vater treibt. Marie sieht zu Jakob, der sich mit Haruto unterhält, denkt: Mir geht es wie dem Sohn des Dekans.
»Glauben Sie an Paralleluniversen?«, fragt sie ihn, und er lächelt sie milde an. »Eigentlich nicht, aber wer kann schon mit Gewissheit behaupten, was es gibt und was nicht. Wenn man die Regeln der Quantenmechanik bedenkt, müssten sogar Zeitreisen möglich sein. Aber ich bezweifle, dass es der Mensch je schaffen wird. Ebenso wenig, wie es möglich sein wird, Menschen zu beamen. Die Leute stellen sich das alles viel zu einfach vor. Man müsste Zigtausende Eigenschaften teleportieren, nicht nur die Polarisationsrichtung wie bei unseren Photonen. Stellen Sie sich dieses Durcheinander vor, wenn nur ein Zehntel davon nicht gelingt!«
Marie mag den Dekan, mag es, wie er mit ihr spricht. Bei ihm verstehe ich es sogar ein wenig, denkt sie. Auch mag sie seine Bodenständigkeit, er redet nicht von Paralleluniversen, sagt ihr nicht: In einem anderen Leben bist du jetzt noch mit Joe zusammen, ist er nicht in den Donaukanal gesprungen, ist dein Vater mit seiner Helga glücklich und nicht in die Straßenbahn gelaufen, lebt sogar deine Mutter noch. Alles hängt von einer einzigen Entscheidung ab, jede Tür eine neue Welt, das ist wie bei einer Rateshow, doch leider, leider haben dein Vater und du die falsche Tür gewählt.
Sie sieht zu Jakob und dem japanischen Studenten, und wieder fällt ihr auf, wie jung Haruto ist. Was hat Jakob gesagt? Vierundzwanzig?
Der Dekan entschuldigt sich, setzt sich ein paar Bänke weiter, dort wird man ihn nicht nach seiner Meinung zu Paralleluniversen fragen, denkt Marie. Sie rutscht näher an Jakob heran, lehnt ihren Oberkörper gegen den seinen. Ob er denn genug Deutsch verstehe, um bei den Vorlesungen mitzukommen, fragt sie Haruto, sie würde das alles nicht einmal in ihrer Muttersprache verstehen, geschweige denn in einer Fremdsprache.
»Oh, that’s no problem«, erwidert er. »The abstracts and papers are in Englisch anyway, and the students and teachers all speak English.« Und das, was auf der Tafel stehe, sei sowieso eine internationalen Sprache, das
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