Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)
kleinen Korb trug. Sie fuhren mit der Straßenbahn zum Pötzleinsdorfer Schlosspark, spazierten zum Teich, fütterten die Enten mit Brotrinden und breiteten die Decke unter dem großen Mammutbaum aus. Dort spielten sie Vater-Mutter-Kind, Marianne, Willi und das kleine Plastikengelchen, das Marianne im Arm wiegte. Die Freitag- und Samstagnächte waren die einzigen, in denen Willi nicht weinte.
Nachdem er das Gymnasium beendet hatte, zog Willi aus der elterlichen Wohnung aus und begann, Physik zu studieren. Oswald Blasbichler ging mit dem Geld seines Schwiegervaters großzügig um und kaufte seinem Stiefsohn eine kleine Wohnung in der Innenstadt. Willi studierte fleißig, absolvierte eine Prüfung nach der anderen und besuchte die Eltern jedes Wochenende.
Im März seines sechsundzwanzigsten Lebensjahres, als er vor den Toren der Tanzschule auf seine Schwester wartete, lernte er schließlich Anna kennen. Hand in Hand kam sie mit Marianne aus dem dunklen Gebäude, und Willi lud die beiden ein, zuerst auf ein Eis und danach auf einen Cocktail. Anna und Marianne waren damals gerade dreizehn geworden. Anna sah bewundernd zu dem großen Bruder der Freundin auf, und als dieser zuerst die Schwester und dann sie nach Hause begleitete, stellte sie sich auf ihre Zehenspitzen, legte ihre dünnen Arme um seinen Hals und küsste ihn auf den Mund.
Von diesem Tag an wartete Willi jeden Samstag vor der Tanzschule. Und so geschah es, dass Anna ihn eines Abends in einen Park zog und ihren goldfarbenen Flaum zwischen den Schenkeln zeigte. Als Willi andachtsvoll darüberfuhr, dachte er an jene Zeit zurück, in der er mit seiner Schwester unter dem riesigen Mammutbaum gelegen war und sie eine glückliche Familie gewesen waren. Er begann, seine Finger sanft über den Flaum der Anna kreisen zu lassen, schloss die Augen und atmete ihren Duft sein. Dann öffnete er den Reißverschluss seiner Hose und ließ sich von Anna streicheln. Anna, der Willis blasses Würmchen gefiel, knabberte kichernd und glucksend an ihm, bis aus dem Würmchen ein Wurm wurde und sie ihn zwischen ihre Beine führte.
Als sich Annas Leib zu wölben begann, regelte Oswald Blasbichler die prekäre Lage mit einem großzügigen Scheck, und Annas Mutter Hedi dachte, besser der Spatz in der Hand als die Taube am Dach. Danach setzte sie die Tochter auf kochendes Wasser, wie sie es selbst einmal getan hatte, doch wieder krallte sich das werdende Leben fest und kam ein Dreivierteljahr später als gesundes Mädchen zur Welt.
Willibald brachte sein Studium zu Ende und trug der Welt seine Gedankenexperimente vor. Dass er eine Tochter namens Vera hatte, erfuhr er erst, als diese schon längst in Australien lebte und er auf seinen sechzigsten Geburtstag zuging.
Annas Schwester und er trafen anlässlich einer Universitätsfeier aufeinander. Traude ging mit ihrem Glas Sekt auf den international bekannten Professor für Quantenphysik zu und flüsterte ihm lange ins Ohr. Sie erzählte von ihrer Schwester Anna, die mit knappen vierzehn ein Kind bekommen hatte, und von ihrer Nichte Vera, die ohne Vater aufgewachsen war. Dabei lachte sie und zeigte den Umstehenden eine Reihe breiter, etwas zu weißer Zähne. Schließlich zog sie ihren Mund von Willibald Blasbichlers Ohr zurück und erzählte von ihrem Sohn, der gerade mit dem Studium fertig geworden sei und sich für die Quantenverschränkung interessiere. Dann winkte sie ihren Mann herbei. »Schau mal, Norbert, wen ich getroffen hab«, sagte sie und spielte mit ihrer Perlenkette. »Der Herr Professor Blasbichler hat gerade gesagt, dass er noch eine Assistentenstelle frei hat.«
15 »Hast du dir schon einmal überlegt, ob es ein Paralleluniversum geben könnte?«
Marie steht im Badezimmer und tuscht sich die Wimpern. Dabei zieht sie die Augenbrauen nach oben und öffnet ihren Mund.
»Wie kommst du denn darauf?«
Jakob, der gegen den Türstock gelehnt steht, in seinen Augen ein quantenmechanisches Leuchten, redet auf Marie ein.
»Ich hab mich mit Haruto neulich darüber unterhalten. Er ist ein radikaler Verfechter dieser Theorie. Ich selbst glaub zwar nicht daran, aber die Idee hat schon was.«
»Was soll ich eigentlich anziehen?« Marie legt die Wimperntusche zur Seite. »Reichen Jeans?«
»Klar. Wir gehen ja nicht in die Oper.«
Jakob lacht und geht Marie nach, seiner wunderbaren Marie, die ihm sogar im Jogginganzug noch als die schönste Frau der Welt erscheinen würde.
»Also«, fragt Marie. »Was hat es nun mit diesem
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