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Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)

Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)

Titel: Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margarita Kinstner
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Wohnung hochzugehen, doch dann fällt ihm ein, dass es sein kann, dass in Joes Wohnung schon längst ein anderer wohnt.
    Gery öffnet die Tür zum Gasthaus. Setzt sich auf eine der Bänke und bestellt sich ein Bier. Am Flipperautomaten steht ein Mann mit dünnem, grauem Zopf und drückt wild auf die Knöpfe, dazwischen trinkt er große gierige Schlucke aus seinem Bierglas. Gery denkt an Hedi und ihr weggegebenes Kind. Die große Liebe trifft man nur einmal, heißt es. Er fragt sich, ob sie mit Ilja zusammengeblieben wäre. Vielleicht wäre er ihr genauso lästig geworden wie ihr späterer Ehemann. Vielleicht werden einem die, mit denen man zusammen ist, immer lästig.
    Am Wochenende wird er nach Oberkreuzstetten fahren. Bernd Kramer war sofort begeistert, als Gery ihn angerufen und gesagt hat, dass er das Haus filmen und ein wenig mit ihm plaudern möchte. Ja gern, hat er gesagt, das sei ja spannend, er könne sich an Hedwig Brunner erinnern. Allerdings fliege er diesen Freitag auf Urlaub und käme erst in zwei Wochen wieder zurück. Aber danach könne Gery gerne einmal vorbeikommen.
    Er wird sich das Haus schon während Kramers Abwesenheit ansehen und die ersten Aufnahmen drehen.
    Er stellt sich vor, wie es wäre, Sonja mitzunehmen. Bestimmt würde ihr das gefallen, wo sie doch so gerne spazieren geht. Sie könnten gemeinsam ins Weinviertel fahren und einen schönen Tag miteinander verbringen. Einfach wie zwei gute Freunde, die einen gemeinsamen Ausflug machen. Vielleicht sollte er sie aber gar nicht mehr treffen. Frauen sind in diesen Dingen anders, denkt er, die erwarten immer etwas, auch wenn sie das Gegenteil behaupten. Alle wollen sie, dass man sie anruft und an sie denkt. Dass irgendetwas passiert. Aber es wird nichts passieren. Er mag sie, und manchmal ist er sogar gern mit ihr zusammen, aber sie haben einander nichts zu sagen. Sonst hätte sie ihn heute gefragt. Egal was. Wenn er gesagt hätte: »Schau, wie der Mond scheint«, oder: »Warm ist es heute«, irgendeinen stumpfsinnigen Blödsinn, es hätte keinen Unterschied gemacht.
    Gery stellt das leere Glas auf den Tisch und legt zwei Münzen daneben. Dann steht er auf, geht um den Mann am Flipperautomaten herum und öffnet die Tür. Auf der Felberstraße winkt er ein Taxi an den Straßenrand. Er hat noch drei Stunden. Vielleicht kann ich ja ein wenig schlafen, denkt er, als er auf die Rückbank klettert.

18  »Ich habe meinen Mann neunzehnhundertachtundvierzig kennengelernt. Ich war keine Sekunde lang in ihn verliebt, aber ich habe ihn trotzdem geheiratet.«
    Gery legt eine neue Tonspur an und zieht Hedis Stimme hinein. Dann zündet er sich eine Zigarette an und hört die Aufnahme an.
    »Eines Nachmittages hat es an der Tür geklingelt. Anna ist gerade am Heimweg von der Schule gewesen, Traude hat damals schon studiert. Vor der Tür ist ein Arbeitskollege vom Ernst gestanden. Ich hab sofort gewusst, dass etwas passiert ist. Ernsts Arbeitskollegen sind nie zu uns gekommen, schon gar nicht, wenn ich allein zu Hause war. Trotzdem habe ich ihm eine Schüssel von dem Weichselkompott hingestellt, das ich gerade am Herd stehen gehabt hab. Dann habe ich mich neben ihn gesetzt und ihm dabei zugeschaut, wie er das Kompott Löffel für Löffel hinuntergewürgt hat.«
    Zuerst denkt Gery, dass die Aufnahme zu Ende ist. Die Anzeige am Display zeigt jedoch an, dass sie noch vierzig Sekunden dauert. Also wartet er. Wenn er genau hinhört, kann er Hedis Atem hören.
    Dann wieder ihre Stimme.
    »Er ist in den Strom gekommen. Keiner hat gewusst, was genau passiert ist, aber sie haben mir versichert, dass es schnell gegangen ist. Er hat nichts gespürt. Zwei Jahre später habe ich herausgefunden, dass meine Tochter Anna schwanger ist. Sie war erst dreizehn.«
    Die Aufnahme ist zu Ende. Gery bleibt vor dem Computer sitzen, in den Ohren die Stöpsel. Das gerahmte Foto in Hedis Wohnzimmer fällt ihm ein und der Mann mit dem strengen Seitenscheitel und dem fein gezeichneten Schnurrbart darauf. »Hirngespinste werden selten zu Ehemännern«, hat Hedi gesagt, als er sie bei seinem ersten Besuch darauf angesprochen hat.
    Gery kopiert die Aufnahme auf seine Festplatte und hört sich die nächste an. Hedi hat immer nur minutenweise in das Gerät gesprochen. Er wird ihre Geschichten in eine zeitliche Reihenfolge bringen müssen.
    Im Filmarchiv findet er eine alte Wochenschau über den Bau des Kapruner Kraftwerks. Bei der Filmverwertungsgesellschaft sucht er um eine Kopie an, sowie um

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